Als Christin leben – ein indisch-deutscher Erfahrungsbericht
Wirkt unser Gottesdienst eher einladend oder befremdend? Wie leben andere ihren christlichen Glauben? Das ist für uns oft schwer einzuschätzen. Die ehemalige weltwärts-Freiwillige Mercy Rethna teilt genau diese Erfahrung mit uns. Sie beschreibt, was sie begeistert und eher irritiert. Aus dem persönlichen Vergleich macht sie konstruktive Vorschläge, sowohl für ihre indische Heimat als für ihr neues Zuhause, Deutschland.
Der Gottesdienst geht nur eine Stunde und beginnt erst um 10 Uhr?!“, fragte ich meine Freundin erstaunt. Sie sagte: „Ja, so ist es in den meisten Kirchen hier. Wie ist es denn in Indien?“ „Oh, ganz anders! In unserer Kirche beginnt der Gottesdienst um 8:30 Uhr und geht bis 10:30 Uhr oder sogar noch eine Stunde länger, wenn Abendmahl gefeiert wird!“, sagte ich. „Wow! Sehr interessant!“, sagte sie.
© Foto: Susann Küster-Karugia/LMW | Sonntagsgottesdienst in der Kathedrale der Tamilischen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der südindischen Stadt Trichy
Es war das erste Mal, dass ich einen Gottesdienst in Deutschland besuchte, und ich war sehr gespannt, wie es sein würde. Wir betraten die Kirche und ich schaute mir fasziniert die Inneneinrichtung an. Ich hatte noch nie eine so alte Kirche mit einem so hohen Dach gesehen! Es war so schön, zum ersten Mal die Orgelmusik zu hören. Ich schloss meine Augen. Ich liebte es, wie die Musik durch die Kirche floss. Ich kenne die meisten deutschen Kirchenlieder, da wir sie in unserer Kirche, der Tamilischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, auf Tamil (meiner Muttersprache) singen. Fasziniert von der Musik öffnete ich langsam die Augen und schaute mich um. Wo waren die Leute? Ich sah, dass nicht einmal die Hälfte der Plätze besetzt war. Und vor allem: Wo waren die jungen Leute? In meinem Heimatland war die Kirche immer voll, obwohl der Gottesdienst drei Stunden oder länger dauerte. Ich erinnere mich, dass ich deswegen manchmal den ganzen Gottesdienst über draußen stand. Ich dachte: „Was ist aus diesem Land geworden, in dem die Reformation begann! Der protestantische Glaube, der in der ganzen Welt verbreitet ist, stammt doch von hier, oder?“ Das war der Zeitpunkt, an dem mir klar wurde, dass nicht alle Menschen in Deutschland christlich sind (wenn wir das auch in Indien über Deutschland denken). Später erfuhr ich, dass in Ostdeutschland der politische Einfluss während des Sozialismus zu dieser Situation führte.
Herausforderung Datenschutz
Wir haben die schöne Tradition in unseren lutherischen Kirchen in Indien, dass zu Geburtstagen und Jubiläen im Gottesdienst gratuliert wird. Die Pastor*innen rufen die Namen der Personen auf und sie können zum Altar kommen, wenn sie möchten. Dann wird für jede Person am Altar gebetet und sie erhält einen Bibelvers. Das macht den Menschen wirklich Mut und hilft ihnen, einen guten Start in ihren nächsten Lebensabschnitt zu haben. Ich habe das in einer der Gemeindeversammlungen in Deutschland vorgeschlagen. Einige waren begeistert, aber es gab auch andere, die sagten: „Wir können die Geburtsdaten nicht bekommen wegen des Datenschutzes!“ Ich dachte mir: „Ach, du armes Deutschland!“. Dann wäre vielleicht eine pauschale Einladung an die Leute, nach vorne zu kommen und sich den Segen der Pfarrperson zu holen, keine schlechte Idee, oder?
Das Beste am Abendmahl
In meiner Kirche in Indien ist es nur Ordinierten erlaubt, das Abendmahl zu spenden. Aber in Deutschland habe ich gesehen, dass jede*r aus der Gemeinde beim Teilen von Brot und Wein helfen darf (zumindest in Ostdeutschland). Das ist großartig! Ich habe schon einige Male mitwirken dürfen und es war mir eine Ehre! Ich habe das Gefühl, dass es genau das ist, was der Bibelvers 1. Petrus 2,9 uns sagt: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht.“
Kollekte: Wofür gebe ich mein Geld?
Es ist großartig, dass das Geld, das in den Kirchen hier gesammelt wird, zur Unterstützung der einzelnen kirchlichen Werke oder Organisationen, die Hilfe benötigen, verwendet wird. Auf diese Weise wissen wir, wohin unser Geld geht. In Indien geht das Geld in der Regel an die Gesamtkirche und wird dann für verschiedene Arbeiten verteilt, zum Beispiel für die Gehälter der Pastor*innen und so weiter.
Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen
In Indien ist die Zeit nach dem Gottesdienst die beste, weil wir unsere Verwandten und Freunde treffen und uns mit ihnen unterhalten, während wir den von der Kirche gesponserten Snack essen und Tee trinken. In Deutschland habe ich bisher einige Kirchen kennengelernt, die das anbieten, aber nicht viele. Bei vielen Gottesdiensten gehen die Leute einfach als Fremde hinaus und haben nicht einmal Zeit, sich zu unterhalten oder neue Leute anzusprechen. Das hat mich aber nicht davon abgehalten, einige wirklich nette Leute kennen zu lernen. Es gab Familien, die mich zum ersten Mal trafen und mich noch am selben Tag zum Mittagessen nach Hause einluden. Um ehrlich zu sein, habe ich so etwas in Indien noch nie erlebt. Es war wirklich herzerwärmend. Ich konnte bald feststellen, dass ich mit Menschen aller Altersgruppen gut zurechtkam.
Traum von einer generationengerechten Kirche
Meiner Meinung nach sollten Gottesdienste nicht so steif sein. Ich habe die große Hoffnung, dass eine gewisse Flexibilität in den Kirchen in Deutschland eine große Wirkung haben könnte, um Menschen aller Generationen in die Kirche zu bringen! In meiner Heimatgemeinde kann zum Beispiel die Anbetung vor dem Gottesdienst von der Jugendgruppe oder von allen, die möchten, ehrenamtlich durchgeführt werden. Dann werden spontan vor dem Gottesdienst beliebige Gemeindemitglieder gefragt, ob sie die Bibellesung übernehmen möchten. Manchmal wird während des Gottesdienstes ein besonderes Lied von einer Jugendgruppe oder von den Kindergottesdienstkindern gesungen. In unserem Chor sind alle Altersgruppen vertreten, was uns hilft, voneinander zu lernen. Die Predigt wird nicht immer von der Pfarrerin oder dem Pfarrer gehalten, sondern jede*r kann sich freiwillig dafür zur Verfügung stellen und entsprechend planen. Auf diese Weise bringt die Gemeinde alle Generationen zusammen und teilt sich auch die Arbeit miteinander.
Alle gleich behandeln?
Es war ein regnerischer Tag und ich stieg aus der Straßenbahn aus. Plötzlich hielt mir eine Hand einen Regenschirm hin! Ich bedankte mich bei der Dame. Als wir weitergingen, fragte sie mich: „Sind Sie aus Indien?“ Ich antwortete mit Ja. Dann sagte sie: „Für mich ist jede Person gleich, weil ich Christin bin!“ Ich verstehe, dass sie nett zu mir sein wollte, aber als sie diesen Satz sagte, zeigte das schon, dass ich anders bin als sie. Ist es nicht normal, dass man alle Menschen gleich behandelt? Warum sollte man sich damit brüsten, etwas Normales zu tun, das der*dem anderen nur das Gefühl gibt, nicht dazuzugehören?
Das Christentum ist keine Religion, sondern ein Lebensstil!
Als ich Deutsche fragte, warum sie nicht in die Kirche gehen, sagten sie: „Der Kirchgang allein definiert dich nicht als Christ*in, aber die Art und Weise, wie du lebst und anderen hilfst, schon“. Das habe ich von den Menschen hier schon mehrfach gehört und war erstaunt über diese Idee. Obwohl dies keine Entschuldigung dafür ist, nicht in die Kirche zu gehen, gefällt mir dieser Gedanke. Ich habe ihn mit vielen meiner Verwandten und Freunde geteilt. Egal, in welchem Land wir leben, welcher Kirche wir angehören und auf welche Weise wir Gottesdienst feiern, wir sind alle eins in Christus. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Hoffnung uns helfen wird, in jedem Aspekt unseres Lebens zu wachsen und voneinander zu lernen!
Mercy Rethna
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