Deutsche hören nicht zu, Tansanier*innen sagen nichts
Ob wir wollen oder nicht: Stereotype begleiten unseren Alltag. Sie machen Dinge scheinbar greifbar, ordnen die Welt in bekannte Schubladen – und sorgen manchmal sogar für ein Lächeln. Doch was, wenn sie anfangen, unsere Begegnungen zu prägen? In interkulturellen Partnerschaften, besonders zwischen dem Globalen Norden und Süden, entfalten sie oft eine spürbare Wirkung. Brighton Katabaro nimmt in seinem Blog-Artikel ein besonders hartnäckiges Stereotyp unter die Lupe.
Stereotype sind wie Gewürze in der Suppe des Lebens: Eine Prise davon kann Geschmack verleihen, doch zu viel verdirbt das ganze Gericht. Sie sind manchmal witzig, oft harmlos gemeint – doch sie haben die Kraft, mehr als nur ein Schmunzeln zu hinterlassen. Stereotype können verbinden, aber auch trennen. Sie können Brücken bauen oder Mauern errichten – alles eine Frage der Perspektive und des Umgangs mit ihnen.
© Foto: Bruno Neurath-Wilson/unsplash | Wer entscheidet? Wer spricht? Wer hört zu? Das sind nicht nur organisatorische, sondern tiefgehende Beziehungsfragen.
In interkulturellen Partnerschaften, etwa zwischen Menschen aus dem sogenannten Globalen Norden und dem Globalen Süden, begegnen mir Stereotype besonders häufig. Sie schleichen sich leise in Gespräche ein, verstecken sich in scheinbar harmlosen Fragen oder gut gemeinten Kommentaren – und bleiben oft unwidersprochen. So entfalten sie ihre Wirkung: mal subtil, mal sehr direkt. Heute lade ich Dich ein, über ein Stereotyp nachzudenken, das ich immer wieder höre:
„Deutsche hören nicht zu, aber Tansanier*innen sagen nichts.“
In der noch zugespitzteren Version klingt es fast wie ein Urteil:
„Deutschland hört nicht zu, und Tansania liefert keine Ideen.“
Wenn ich jedes Mal einen Euro bekommen hätte, wenn ich diesen Satz gehört habe, wäre ich wohl längst Millionär. Wie bei den meisten Stereotypen steckt auch in diesem ein Körnchen Wahrheit, aber auch eine große Vereinfachung einer vielschichtigen Realität. Genau deshalb lohnt es sich, diese Aussage näher zu betrachten. Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern mit Humor, mit Ehrlichkeit, mit Geduld – und mit echter Neugier auf das, was dahintersteckt.
Zwei Szenen zur Reflexion
Szene Eins: Ein Treffen in Berlin
Gleich zu Beginn meiner Arbeit hier in Deutschland wurde ich von Brot für die Welt zu einem Einführungstreffen nach Berlin eingeladen. Dort kamen Kolleg*innen aus der Inlandsförderung sowie von kirchlichen Partnerschaftsgruppen zusammen. Ich wurde interviewt, um eine Perspektive aus dem Globalen Süden einzubringen. Übrigens: Auch mit dieser Bezeichnung – „Globaler Süden“ – habe ich meine Schwierigkeiten, weil sie selbst voller Annahmen und Stereotype steckt. Aber das ist eine Diskussion für einen anderen Tag.
Jedenfalls stellte mir bei diesem Treffen jemand die Frage, warum sich tansanische Partner*innen bei gemeinsamen Treffen oft nicht zu Wort melden. Ich musste schmunzeln. Nicht, weil ich die Frage albern fand, sondern weil ich kurz zuvor von einer deutschen Freundin das genaue Gegenteil gehört hatte. Sie war mit einer Delegation in Tansania gewesen und hatte gesagt: „Tansanier*innen reden zu viel. Wenn sie einmal anfangen, hören sie gar nicht mehr auf.“
Szene Zwei: Die Fünf-Minuten-Präsentation
Letztes Jahr fand eine große Partnerschaftsbegegnung in Deutschland statt. Acht Gruppen aus Tansania waren eingeladen worden – insgesamt über 30 Delegierte. Jede Gruppe sollte eine 15-minütige Präsentation über ihr Projekt vorbereiten, die sie hier vortragen sollte. Wochenlang hatten sie sich vorbereitet und dafür geübt. Doch als die Zeit fürs Präsentieren kam, hieß es plötzlich: „Jede Gruppe hat nur fünf Minuten für die Präsentation.“ Im Raum ging ein leises Murmeln auf Kiswahili um: „Dakika tano tu?“ – Nur fünf Minuten?
Es mag gute organisatorische Gründe für die Kürzung gegeben haben. Aber der Stress, eine 15-minütige Präsentation auf fünf Minuten zu komprimieren – zumal sie noch übersetzt werden musste, aus Kiswahili ins Englische oder Deutsche – ist nicht zu unterschätzen. Trotz allem haben es alle Gruppen geschafft.
Doch was mir im Gedächtnis blieb, war ein humorvoller Kommentar eines tansanischen Delegierten danach: „Sie haben uns so wenig Zeit gegeben, weil sie wissen – wenn wir Tansanier*innen erst einmal anfangen zu reden, hören wir nicht mehr auf.“ Alle lachten. Doch hinter dem Lachen verbarg sich eine tiefere Erkenntnis. Der Witz war Ausdruck von etwas, das unausgesprochen blieb. Eine feine, stille Art, das anzusprechen, was den Austausch in solchen Begegnungen verbessern kann.
Wie entstehen Stereotype?
Aber woher kommt das überhaupt – dieses Bild von den schweigenden Tansanier*innen und den dominanten Deutschen? Es entsteht, wie viele Stereotype, aus echten Erfahrungen. Nur: Wenn sie nicht hinterfragt werden, verfestigen sie sich zu festen Überzeugungen. Die Vorstellung, dass „Deutsche nicht zuhören“ und „Tansanier*innen sich nicht äußern“, entspringt meist keiner bösen Absicht. Sie entsteht aus echter Neugier – aber eben auch aus einer begrenzten Perspektive.
In dieser Aussage begegnen sich zwei sehr unterschiedliche Weltbilder im selben Raum.
Auf deutscher Seite heißt es: „Wir haben sie eingeladen, wir haben alles vorbereitet – warum sagen die Tansanier*innen denn nichts? Sind sie unvorbereitet oder nicht interessiert?“
Auf tansanischer Seite höre ich: „Wir waren Gäste. Sie waren die Gastgebenden. Sie haben das Gespräch geführt. Sie haben nicht pausiert. Wann hätten wir denn etwas sagen sollen?“
Das sind nicht nur unterschiedliche Wahrnehmungen – sie wurzeln in verschiedenen Kommunikationsstilen und Erwartungen.
In der tansanischen Kultur (auch ich verallgemeinere hier) bedeutet Schweigen Respekt: Ich höre zu. Ich denke nach. Ich spreche, wenn ich an der Reihe bin. In der deutschen Kultur hingegen kann Schweigen Sorge auslösen: Sind sie unvorbereitet? Interessieren sie sich überhaupt?
Diese Unterschiede führen oft zu Missverständnissen, auch wenn niemand etwas Böses will. Besonders deutlich wird das bei Meetings, wenn der „Ping-Pong-Stil“ erwartet wird, aber nicht alle mitspielen – oder besser gesagt: nicht alle nach denselben Regeln spielen.
Geschichte und Macht
Doch es geht nicht nur um kulturelle Unterschiede. Auch die Geschichte spielt eine Rolle. Koloniale Prägungen, wirtschaftliche Ungleichgewichte, unausgesprochene Erwartungen – all das schwingt in internationalen Partnerschaften mit. Trotz des oft ausgesprochenen Ziels einer „Partnerschaft auf Augenhöhe“ sieht die Realität häufig anders aus:
Wer die Ressourcen kontrolliert, kontrolliert oft auch die Richtung des Gesprächs. Darüber wird selten offen gesprochen, aber es wird oft gespürt. Viele tansanische Partner*innen sehen sich selbst – oder werden gesehen – noch als Empfangende. Die Deutschen hingegen sehen sich selbst – oder werden gesehen – als Gebende.
Selbst im kirchlichen oder entwicklungspolitischen Kontext ist dieses Bild sichtbar: Deutsche schlagen vor, Tansanier*innen reagieren. Deutsche sprechen zuerst, Tansanier*innen warten ab. Oder umgekehrt.
Wenn wir echte Partnerschaften wollen, müssen wir diese Denkweise überwinden. Wir müssen Beziehungen aufbauen, die von gegenseitigem Respekt, geteilter Verantwortung und gleichberechtigtem Beitrag geprägt sind.
Wie können wir es besser machen?
Auf diese Frage gibt es keine einfachen Antworten oder Patentrezepte. Aber es gibt durchdachte Ideen, die zwar nicht neu sind, die wir jedoch gemeinsam bewusster ausprobieren können:
Erstens: Bessere Fragen stellen.
Statt: „Warum melden sich Tansanier*innen nicht zu Wort?“ Besser: „Was würde Tansanier*innen helfen, sich sicher und willkommen zu fühlen, um sich einzubringen?“
Statt: „Warum hören Deutsche nicht zu?“ Besser: „Wie können wir ein tieferes, aufmerksameres Zuhören fördern?“
Zweitens: Agenden gemeinsam entwickeln.
Echte Partnerschaftsbegegnung beginnt lange vor dem Meeting. Agenden gemeinsam zu entwerfen, führt dazu, dass Partner*innen nicht nur reagieren, sondern aktiv mitgestalten – von Anfang an.
Drittens: Kontinuierliches Lernen fördern.
Voneinander zu lernen, ist kein einmaliges Ziel, sondern ein lebenslanger Prozess. Dabei geht es um genaues Zuhören – auch auf das, was nicht gesagt wird – Nachfragen, Verstehen – und dabei gemeinsam wachsen. Bei mir merke ich: Je mehr ich über andere lerne, desto mehr entdecke ich manchmal meine eigene Unwissenheit über mich selbst und über andere Menschen. Nach sechs Jahren Studium und drei Jahren Arbeit in Deutschland kann ich nicht behaupten, die Deutschen völlig zu verstehen. Ich kann auch nicht sagen, ich verstehe die Tansanier*innen vollständig – nicht einmal alle Menschen aus meinem eigenen Dorf. Und das ist völlig in Ordnung. Das ist kein Grund zur Resignation, sondern eine Einladung, mit Mut und Offenheit in Beziehungen zu treten – als Menschen mit vielfältigen Unterschieden.
Viertens: Machtverhältnisse ehrlich reflektieren.
Wir sollten uns bei jeder Partnerschaftsbegegnung fragen: „Wer entscheidet? Wer spricht? Wer hört zu?“ Das sind nicht nur organisatorische, sondern tiefgehende Beziehungsfragen. Wenn wir uns der unsichtbaren Kräfte bewusst werden, die unsere Interaktionen prägen, können wir den Raum neu gestalten – so, dass alle gehört und wertgeschätzt werden.
Menschen zu verstehen, ist eine lebenslange Reise
Können wir am Ende wirklich sagen, dass Deutsche schlechte Zuhörer*innen sind und Tansanier*innen zu still? Natürlich nicht. Beide kommunizieren – nur auf unterschiedliche Weise. Menschen zu verstehen, ist nichts, das man einmal lernt und dann „absolviert“ hat – es ist eine lebenslange Reise. Ebenso sind interkulturelle Partnerschaften dynamische und herausfordernde Beziehungen, die Neugier, Mut, Demut, Lernbereitschaft, Geduld – und eine großzügige Portion Humor – erfordern.
Brighton Katabaro
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