Die Herrnhuter Brüdergemeine und Rassismus
Die koloniale Vergangenheit prägt viele weltweit agierende Kirchen. Die Frage nach der Aufarbeitung der eigenen Schuld und die Suche nach einem neuen, gleichberechtigten Miteinander auf Augenhöhe sind dabei leitend. Auch die Herrnhuter Brüdergemeine ist auf der Suche. Winelle Kirton-Roberts berichtet von den Impulsen, die sie wahrnimmt und die sie als zukunftsweisend erachtet.
Die Moravian University in Bethlehem, Pennsylvania, USA, veranstaltete im November 2022 ein Symposium zum Thema Race, Sklaverei und Landrechte. Historiker*innen, Anthropolog*innen und Politikwissenschaftler*innen aus Afrika, der Karibik, Europa und den USA präsentierten ihre Forschungserkenntnisse zu verschiedenen Themen im Zusammenhang mit dem rassistischen Erbe der Herrnhuter Brüdergemeine.
Generell beschäftigte sich das Symposium mit den rassischen Ideologien der Leitenden der Brüdergemeine im 18. Jahrhundert, die sich in der weltweiten missionarischen Arbeit der Herrnhuter unter versklavten Menschen afrikanischer Herkunft und indigenen Bevölkerungsgruppen widerspiegelten. Die Vortragenden betonten besonders die Doppelmoral der Herrnhuter in der Vergangenheit und verknüpften sie mit zeitgenössischen Fragen der Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. Die vollständigen Vorträge können online nachgelesen werden.
© Foto: Luther Lee/unsplash | Die Debatte um die schwierige koloniale Vergangenheit bringt vieles in Bewegung.
Als eine der Vortragenden war ich froh, dass die Universität der Evangelischen Brüder-Unität in dieser aktuellen Zeit, in der sich die Welt und die Kirche mit ihrer dunklen Vergangenheit auseinandersetzen, ein solches Forum ermöglichte. Als Herrnhuterin ist es gut zu wissen, dass die Herrnhuter Brüdergemeine mit ganz verschiedenen Menschen solche Diskussionen führt, während sie auf ihre Vergangenheit zurückblickt. Wichtig finde ich außerdem, dass in diese Gespräche diejenigen einbezogen werden, deren Stimmen lange unterdrückt wurden.
Ich kann nicht sagen, dass ich als Kind, das in der Herrnhuter Brüdergemeine auf Barbados aufwuchs, Rassismus erlebt habe. In den 1970er und 1980er Jahren bestand die Gemeinde fast ausschließlich aus Menschen afrikanischer Abstammung. Auch die meisten Pastor*innen stammten aus der Karibik. Meiner persönlichen Erfahrung nach war die Herrnhuter Brüdergemeine einladend, fürsorglich und unterstützend.
Als ich im Rahmen meiner pastoralen Ausbildung Theologie studierte, recherchierte ich über die Missionsarbeit der Herrnhuter auf einer Plantage in Jamaika. Damals wurde mir klar, dass die Herrnhuter versklavte Afrikaner*innen „besaßen“, von deren Arbeit profitierten und sie ähnlich behandelten wie die europäischen Kolonialherr*innen. Immer noch stolz auf mein kirchliches Erbe, argumentierte ich, dass an der Art und Weise, wie die Herrnhuter auf der Plantage missionierten, nichts auszusetzen sei. Was war nicht gut daran, das Evangelium von Jesus Christus zu verkünden, Bildung zu vermitteln und persönliche und alltägliche Fähigkeiten zu lehren?
Es war während meines Studiums in den USA, als ich zum ersten Mal Rassismus erlebt habe. Um es klar zu sagen: Rassismus umfasst nicht nur Diskriminierung oder Vorurteile, sondern auch, dass Menschen bewusst die Macht ihrer Position ausnutzen, um andere Menschen als weniger wertvoll zu behandeln. Rassismus gibt es sowohl in der säkularen Welt als auch in der Kirche.
Ein Beispiel aus dem kirchlichen Kontext habe ich selbst erlebt: Ich war überrascht von der Reaktion der Herrnhuter Kirchenleitung in den USA, als ich mich an sie wandte, um eine vakante Pfarrstelle zu besetzen, während mein Mann sein letztes Studienjahr absolvierte. Der Leiter erkannte zwar an, dass ich als ordinierte Herrnhuter Geistliche und mit einem Abschluss des theologischen Seminars in Princeton durchaus qualifiziert war, sagte mir aber, dass die betreffende Herrnhuter Gemeinde keine Schwarze Person als Pastorin akzeptieren würde. Später erfuhr ich, dass sie einen weißen Mann akzeptierten, der keine Wurzeln in der evangelischen Brüdergemeine hatte und bis dato keine theologische Ausbildung absolviert hatte. Wenn das kein Rassismus war, was ist es dann?
Seitdem habe ich einen anderen Blick auf die Herrnhuter Brüdergemeine. Ich fragte mich, warum die Missionar*innen so kritisch und negativ gegenüber Menschen afrikanischer Abstammung eingestellt waren. Ich fragte mich, warum die europäischen Kirchenleitenden der Herrnhuter Brüdergemeine eher auf der Seite der europäischen Kolonialmächte standen und nicht für die Emanzipation der Versklavten kämpften. Ich frage mich, warum wir auch heute noch Machtkämpfe haben.
Dass alle eins seien
Tatsache ist, dass die Herrnhuter Brüdergemeine recht vielfältig ist, wobei ein deutlich größerer Anteil der Mitglieder aus dem Globalen Süden stammt. In unseren Liturgien und Versammlungen wird oft ein Gefühl der globalen Einheit vermittelt. Dennoch muss ich ehrlich fragen, ob wir wirklich ehrlich glauben, dass wir in Jesus Christus eins sind.
Um das Gebet Jesu zu erfüllen, dass „wir alle eins sein mögen“, möchte ich Folgendes vorschlagen:
Hört zu. Diejenigen, die bereits vor 300 Jahren gesprochen haben, sind immer noch die Stimmen, die wir heute überwiegend hören. Es ist wichtig, dass wir innehalten und auch den Stimmen aus dem Globalen Süden ohne vorgefasste Meinung zuhören. Wir sollten nicht davon ausgehen zu wissen, wer andere Menschen sind, welche Bedürfnisse sie haben und was sie tun können oder nicht.
„[…] Er ist alt genug; lasst ihn für sich selbst reden“ steht schon in Johannes 9,21.
Lernen. In der Herrnhuter Brüdergemeine gibt es viele geschätzte Traditionen und Strukturen. Viele davon gilt es zu bewahren. Aber was können wir von den neuen Entwicklungen und Formen der Gemeindearbeit in diesem Jahrhundert lernen? Wir werden umso reicher sein, wenn wir erkennen, dass Lehren und Lernen in beide Richtungen gehen.
„Und was du von mir gehört hast durch viele Zeugen, das befiehl treuen Menschen an, die tüchtig sind, auch andere zu lehren.“ – 2 Timotheus 2,2
Liebe. Das Herrnhuter Motto ist ein Aufruf zur Liebe in allen Dingen. Aber diese Liebe ist auch ein Aufruf, alle Menschen so zu lieben, wie Jesus Christus alle geliebt hat. Einige Herrnhuter Bischöf*innen haben uns kürzlich in einem Brief an die Gemeinden aufgefordert, uns um Leib und Seele zu kümmern. Nicht nur um die, die „wie wir“ sind, sondern um alle, denen wir begegnen. Wir müssen nicht kilometerweit reisen, um diejenigen zu finden, die anders sind als wir.
„Die Liebe sei ohne Heuchelei. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten!“ – Römer 12,9
Wir haben als Kirche einen weiten Weg zurückgelegt, aber es liegt ein noch weiterer Weg vor uns. Ich glaube, dass die Kirche eine glänzende Zukunft hat, wenn wir lernen, die Einheit und die Liebe, die in Jesus Christus zu finden ist, anzunehmen.
Winelle Kirton-Roberts
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