Eine starke Botschaft

Die Bibel kann für Menschen, die im Gefängnis sind, eine wichtige Hilfe sein. Wie er mit Häftlingen arbeitet und welche Rolle die Bibel dabei spielt, erzählt Gefängnisseelsorger Stefan Warnecke im Blog.

Ich bin Gefängnisseelsorger in der Jugendanstalt Hameln, dem größten Jugendgefängnis in Deutschland. Bei uns sind rund 370 Jugendliche im Alter von 14 bis 24 Jahren inhaftiert. Die jungen Menschen, denen ich hier begegne, haben ihr Leben gegen die Wand gefahren. Ihr Lebenskonzept lautete oft „Die Stärkeren setzen sich durch“, „Ich kann jede Person übers Ohr hauen“, „Das ganze Leben ist eine einzige Party“. Und jetzt merken sie: So kann es nicht weitergehen, mein Leben ist gescheitert. Sie versuchen, sich neu zu orientieren und Halt zu finden. Es tut sehr weh, von zu Hause getrennt zu sein, von freundschaftlich verbundenen Menschen, die ganzen Einschränkungen. In dem Moment stellt man die großen Fragen: Was trägt? Was gibt mir Sinn im Leben? Wofür lohnt es sich zu leben? Unsere Inhaftierten sind in einem Alter, in dem man sich seelisch und geistig konstituiert.

Die Psalmen sprechen im Gefängnis oft ganz real ins Leben der Inhaftierten. © Foto: Worshae/unsplash | Die Psalmen sprechen im Gefängnis oft ganz real ins Leben der Inhaftierten.

Meine Hauptangebote hier im Gefängnis sind Gespräche, Gruppen und Gottesdienste. Wenn Jugendliche ein Gespräch mit mir möchten, stellen sie einen Antrag. Dann suche ich sie auf und nehme sie mit in unsere Räume. Daneben biete ich auch Gruppen an, zum Beispiel einen Glaubenskurs oder die Gruppe „Blickwechsel“. Dafür kommen Jugendliche einer Berufsschule in die Anstalt, treffen sich mit einer festen Gruppe von Häftlingen und tauschen sich zu speziellen Themen aus. Und dann gibt es noch die Gottesdienste, für die man keinen Antrag stellen muss. Dort kann man am Sonntagmorgen einfach hingehen.

Ich bin immer wieder erstaunt zu sehen, wie oft Jugendliche hier nach der Bibel fragen. Bei uns darf jeder eine eigene Bibel in seiner Zelle haben. Manche sagen mir: „Ich kann nicht gut lesen, aber eine Bibel auf dem Zimmer, das gibt mir Sicherheit, dann bin ich nicht allein.“ Wenn sich jemand fehlverhält, muss sich die Person in einen Haftraum mit wenig Ausstattung begeben. Es gibt dort keinen Fernseher, keine Ablenkung, keine Aussicht, nichts. Aber es gibt auf Nachfrage immer eine Bibel. Wenn ich vorbeischaue, sagen mir die Inhaftierten dann: Ich lese gerade in der Bibel. Das berührt mich.

Die Psalmen sprechen direkt in das Leben der Inhaftierten

Mein Eindruck ist, dass die jungen Menschen hier in der Bibel ihre Situation widergespiegelt finden. Zum Beispiel in den Psalmen: Diese ganzen Hilferufe an Gott, wo jemand seine Not klagt mit Sätzen wie „Sie erfinden falsche Anschuldigungen“ oder „Drohend zeigten sie mir ihre Zähne“. Für die Häftlinge sind diese Sätze erschreckend real, denn sie erleben das oft ganz genau so: Mitgefangene, die ihnen üble Geschichten anhängen, sie unterdrücken oder sogar verprügeln wollen. Manche haben Angst, ihren Haftraum zu verlassen. In dieser Situation gewinnen die Psalmen auf einmal eine unglaubliche Lebensrelevanz. Ich bin als Pfarrer schon an verschiedenen Orten eingesetzt gewesen. Aber ich habe noch nie erlebt, dass Psalmen so real ins Leben hineinsprechen wie hier im Gefängnis.

Auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn hat hier eine große Bedeutung. Fast alle Jugendlichen kommen aus zerrütteten Familien. Manche sind in Wohngruppen aufgewachsen, in verschiedenen Pflegefamilien oder bei drogenabhängigen Eltern. Und dann so etwas zu hören: Es gibt einen Gott, zu dem ich laufen kann und der mich in die Arme nimmt. Noch bevor ich den Mund aufgemacht und um Vergebung gebeten habe. Das ist eine unheimlich starke Botschaft. Fehlende Vaterfiguren sind oft ein wichtiges Thema. Gott ist jemand, der Heimat gibt, der verwurzelt und der vorbehaltslos für mich da ist – das ist das, was die meisten Jugendlichen hier nie erlebt haben.

Beichtrituale gegen Schuldgefühle

Natürlich geht es im Gefängnis auch immer wieder um das Thema „Schuld“. Kürzlich kam ein Jugendlicher zu mir und sagte: „Ich kann nicht mehr schlafen, ich sehe immer die Gesichter meiner Opfer vor mir.“ In einer solchen Situation helfe ich oft mit einem Ritual. Ich bitte den Jugendlichen dann, seine Tat noch einmal ganz detailliert zu erzählen und dazu den „Schuldstein“ in die Hand zu nehmen. Ich habe dafür schwarze, geschliffene Handschmeichler. Danach treten wir vor den Altar und ich spreche ein Gebet oder spiele auf der Gitarre oder wir sprechen das Vaterunser. Dann gehen wir raus und werfen den Stein in den Ententeich. Das ist eine Form von Beichtritual. Im Gefängnis funktionieren solche Rituale sehr gut.

Es ist nicht mein Auftrag, im Gefängnis zu missionieren. Aber vor einem Jahr kamen einige Häftlinge auf mich zu und sagten: „Ich möchte gerne Christ werden“. Da habe ich mit ihnen ein halbes Jahr lang einen Glaubenskurs gemacht. Wir haben dabei auch in der Bibel gelesen und darüber gesprochen. Am Schluss wollten sich fast alle taufen oder konfirmieren lassen. Wir hatten dieses Jahr an Ostern acht Taufen und vier Konfirmationen! Es war großartig und hat in der Anstalt für viel Erstaunen gesorgt. Das gab es so noch nie!

Stefan Warnecke

Dieser Beitrag ist ursprünglich als Interview in der Zeitschrift „Bibelreport“ der Deutschen Bibelgesellschaft erschienen.


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