Entschuldung: Zum Wohle der Weltwirtschaft

Wer sich Geld leiht, muss es wieder zurückgeben. Bei Krediten in der Regel mit Zinsen. Die geldgebende Partei verdient gut am Geschäft mit dem Geld. Wieso sollte man also dieses bewährte Geschäftsmodell im Falle von Staatsschulden hinterfragen und sogar auf eine Rückzahlung verzichten? Weil es für die Weltwirtschaft besser ist. Das Prinzip hat schon die Bibel vorgemacht. Was zunächst wie ein Gegensatz klingt, ist aber keiner, denn Staatsschulden können sich zu einem Bumerang entwickeln, der auch die kreditgebenden Länder beeinträchtigen kann, erklärt Jürgen Kaiser, ehemaliger Geschäftsführer des Bündnis Erlassjahr.

Die Erlaßjahr2000-Kampagne war mit mehr als 2000 beteiligten Organisationen bundesweit um die Jahrtausendwende die bis dato größte entwicklungspolitische Mobilisierung in Deutschland. Ihr Name nimmt das Konzept des periodischen, verlässlichen Schuldenerlasses zur Vermeidung von Polarisierung zwischen Arm und Reich im Alten Testament auf. Die Kampagne erreichte beim G8-Gipfel 1999 in Köln einen rund 70 Milliarden US-Dollar schweren Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Erde. Viele der damals entlasteten Länder sind heute wieder in einer schweren Schuldenkrise gefangen.

Aktion von Erlassjahr zum G7-Gipfel in Bonn (2022) © Foto: Erlassjahr.de | Aktion von Erlassjahr zum G7-Gipfel in Bonn (2022)

Schon damals gingen die Forderungen der besonders von Kirchen, Gemeinden und christlichen Gruppen getragenen Kampagne an einem entscheidenden Punkt über einen Schuldenerlass hinaus: Sie wollten, dass für überschuldete Staaten die Möglichkeit eines rechtsstaatlichen Insolvenzverfahrens geschaffen wird – so wie es bei uns für überschuldete Unternehmen oder Personen selbstverständlich ist. Das wurde damals und seither trotz hoffnungsvoller Ansätze im Internationalen Währungsfonds (IWF) und in den Vereinten Nationen nicht erreicht. Dank einer intensiven Lobbyarbeit der Mitträger*innen des erlassjahr.de-Bündnisses während des Bundestagswahlkampfes taucht genau diese Forderung nun im Koalitionsvertrag der Ampelregierung wieder auf.

Die Verschuldungssituation der Länder im Globalen Süden spitzt sich weiter zu

Es ist höchste Zeit: Eine rasche wirtschaftliche Erholung von den Folgen der Corona-Pandemie scheitert in vielen Ländern des Globalen Südens an den hohen Zins- und Kreditrückzahlungen, zu denen diese Länder verpflichtet sind. Weltweit steigende Lebensmittel- und Energiepreise aufgrund des Kriegs in der Ukraine führen dazu, dass sich die Verschuldungssituation der Länder im Globalen Süden weiter zuspitzt. Einige Staaten wie Sri Lanka sind bereits im Zahlungsausfall. Viele weitere können ihren Schuldendienst nur pünktlich bedienen, weil sie den Rechten der Gläubiger*innen auf Rückzahlung Vorrang vor den wirtschaftlichen und sozialen Rechten der eigenen Bevölkerung einräumen.

Nahezu alle, die noch vor 2020 Schuldenkrisen für ein Ding der Vergangenheit hielten, darunter die Spitzen von IWF, Weltbank sowie die G7-Staaten bei ihren Minister*innengipfeln im Mai in Deutschland, erkennen an, dass viele kritisch verschuldete Staaten zeitnah umfassende Schuldenerlasse benötigen. Die G20 hatten unter dem Eindruck der Pandemie schon 2020 dafür einen Anlauf unternommen, indem sie die Möglichkeit eines Moratoriums (Debt Service Suspension Initiative – DSSI) und mit dem so genannten Common Framework ein Verfahren für eine umfassende Schuldenrestrukturierung beschlossen haben. Das Moratorium haben inzwischen 47 Länder in Anspruch genommen. Auf sie kommen nun aber erhöhte Nachzahlungen plus Zinsen an ihre Gläubiger*innen im Zeitraum 2023 bis 2027 zu. Einen echten Erlass haben bislang drei Länder – Sambia, Äthiopien und der Tschad – beantragt. Beschlossen wurde in noch keinem einzigen Fall auch nur ein einziger Dollar Erlass.

Dringend erforderlich: Rechtsverbindlichkeit bei Schuldenerlassen

Das liegt daran, dass das Konstrukt der G20 eben nicht auf die von erlassjahr.de, der globalen Schuldenbewegung und nunmehr auch der Bundesregierung geforderte Rechtstaatlichkeit baut, sondern noch immer alle Entscheidungsgewalt in den Händen der Gläubiger*innen belässt. Genauer gesagt: der G20-Gläubiger*innen. Aber nicht mal die sind sich einig, wer genau was erlassen müsste: China, der wichtigste Einzelgläubiger des Globalen Südens erklärt einen wesentlichen seiner Forderungen an ärmere Länder kurzerhand zu Privatforderungen. Private Gläubiger*innen aus West und Ost, hingegen, werden von den G20, den G7, Weltbank und IWF ein ums andere Mal aufgefordert, ebenfalls Schuldenerleichterungen zu gewähren. Aber so lange diese das nur freiwillig tun sollen, macht es selbstverständlich keiner. Schließlich will man als Bank oder Fonds ja nicht verzichten, und der Kollege von nebenan kassiert fröhlich weiter, ohne dass sich die Situation der Schuldenhabenden spürbar verbessern würde.

Genau da liegt der Unterschied zwischen einem Staateninsolvenzverfahren und den halbgaren Beschlüssen der G20: Ein Insolvenzrichter entscheidet, wer auf der Grundlage einer anständigen Tragfähigkeitsanalyse noch welche Zahlungen erhalten soll, und das haben alle zu akzeptieren.

Wenn die Bundesregierung in den kommenden Diskussionen bei G7, G20 und in der UNO ihre Verpflichtung aus dem Koalitionsvertrag wirklich umsetzen will, muss sie darauf drängen, dass die Möglichkeiten für solche Trittbrettfahrer*innen endlich verschlossen werden. Die Instrumente dafür gibt es eigentlich schon: Ein britisches Gesetz gegen so genannte Geierfonds zeigte schon 2010 wie Schuldenerlasse für alle verbindlich gemacht werden können. Die Vereinten Nationen können Guthaben von überschuldeten Staaten gegen Klagen ihrer Altgläubiger*innen immunisieren. Die Ausrufung des Staatsnotstandes erlaubt in vielen Jurisdiktionen die einseitige Aussetzung des Schuldendienstes.

Schulden sind ein Bumerang

Die Krise der 1990er Jahre wäre Mitte jener Dekade durch entschlossene Schuldenschnitte relativ kostengünstig zu beheben gewesen. Stattdessen entschloss man sich aber, den Schuldendienst an die (privaten) Gläubiger*innen im Globalen Norden durch frische Kredite von Weltbank und IWF künstlich aufrecht zu erhalten. Mithin: dem schlechten Geld das gute hinterherzuwerfen. Das führte zu der für damals enormen Summe von 70 Milliarden US-Dollar an unvermeidlichem Schuldenerlass. Den Fehler kann sich die durch Covid und Krieg angeschlagene Weltwirtschaft nicht noch einmal leisten.

Frühere Bundesregierungen von 2002 und 2009 hatten die Forderung nach einem Staateninsolvenzverfahren auch schon in ihren Koalitionsverträgen stehen. Damals schützten allerdings noch die Auswirkungen der Entschuldungen der 2000er Jahre vor flächendeckenden Krisen. Laut dem Schuldenreport 2022 von erlassjahr.de und Misereor sind aktuell 135 Länder im Globalen Süden kritisch verschuldet, etwa ein Fünftel davon bereits heute so schwer, dass ohne wirksame Schuldenerleichterungen ihr Funktionieren als Staaten überhaupt ernsthaft bedroht ist. Noch einmal wird einfach Abwarten vor humanitären Katastrophen im Süden, und dem „Schuldenbumerang“ aus dem Wegbrechen von Märkten, zunehmendem Terrorismus, erzwungener Migration und anderen Effekten auf den scheinbar stabilen Globalen Norden nicht schützen.

Jürgen Kaiser


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