Identität versus Vielfalt?

Männlich, weiblich, divers – Definitionen, die identitätsstiftend wirken und in ihrer Gesamtheit Vielfalt zeigen. Häufig ist nur eine Identität der einzelnen Person ein Hauptaugenmerk in der Diversity-Debatte. Das ist aus zweierlei Gründen problematisch: Zum einen sollte sich Vielfalt nicht nur auf das Thema Gender beziehen. Zum anderen gibt es Anzeichen, dass Identität in Bezug auf Vielfalt auch behindernd wirken kann.

Zurzeit finden viele gesellschaftliche Debatten zu Vielfalt bzw. Diversity statt und sie fokussieren dabei oft nur auf die Vielfalt der Geschlechter. Vielfalt in Teams und auch in kirchlichen Gemeinden entsteht aber nicht nur über eine Diversität der Geschlechter. Kirchliche Gruppen sind z. B. oft der einzige Ort – wenn Großfamilien nicht mehr „funktionieren“ –, wo Menschen generationenübergreifend miteinander Zeit verbringen und gestalten. Daher ist Altersvielfalt ebenfalls wichtig. Und Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen verstärken noch einmal vielfältige Perspektiven in Teams. Weitere gewinnbringende Gruppen und Bereicherungen würden uns einfallen. Die Engführung auf das eine Thema Gender reicht meiner Meinung nach noch nicht, um das Ziel der größeren Vielfältigkeit zu erreichen.

Vielfalt ist bunt © Foto: RhondaK/unsplash | Vielfalt ist bunt

Nun kann man immer auf zwei Seiten eines Pferdes runterfallen und sich dann möglicherweise im Kleinklein der Identitätspolitik verlieren. Denn Gruppenzugehörigkeiten oder Quoten zementieren ja auch Zuschreibungen. Komme ich über eine Frauenquote in ein Team, muss ich dann immer eine feministische Stimme erheben? Komme ich als Mutter in ein Team, als Stadtbewohnerin, als Niedersächsin, als Weiße, als Christin, als Vegetarierin, als …? Ich selbst habe ja vielfältige und sogar wechselnde Identitäten und möchte nicht nur auf eine festgelegt werden. Ich sehe es kritisch, mich immer wieder zuordnen zu sollen. Ich meine sogar, dass die Identitätsdebatte manchmal der Diversity-Debatte schadet.

Meine zweite Heimat seit Kindertagen ist Indien. Dort habe ich schon vor Jahrzehnten das Phänomen Kommunalismus kennengelernt. Unter dem Begriff Kommunalismus versteht man hauptsächlich in Südasien das Phänomen, dass sich Menschen vorwiegend über ihre Gruppeninteressen als meist religiös oder ethnisch bestimmte Gruppe definieren. Dazu gibt es Analogien in unserer Gesellschaft: In Indien geht es um festgeschriebene Identitäten in den religiösen Zugehörigkeiten, bei uns geht es um die diskriminierenden Zuschreibungen aufgrund der sozialen Herkunft. Alle diese Identitäten scheinen festgezurrt und zugeschrieben. Ist es nicht genau das, was wir nicht mehr wollen? Wollen wir nicht gerade fluide Strukturen und auch die Möglichkeit des Religionswechsels, wollen wir nicht gerade Arbeiterkinder studieren und Chefärztinnen ihre Fahrer heiraten sehen? Dann sollten wir skeptischer mit zugeschriebenen Identitäten sein.

Inklusion ist der Schlüssel

Das Konzept von Inklusion versucht, genau dieser Falle zu entgehen. Es geht nicht mehr um Minderheiten und Einzelidentitäten, sondern um das große Ganze. Es ist eigentlich nicht entscheidend, welche Identitäten mitgebracht werden, sondern welche Kompetenzen. Wenn das entscheidend ist und nicht das Bedienen von Quoten und Gruppeninteressen, haben wir Vielfältigkeit erreicht. Die Debatte zur Inklusion von Menschen mit Behinderung versucht, das zu durchdenken. An diesem Beispiel soll das verdeutlicht werden: In Kirche und Theologie wird unter Inklusion eine ganze Bandbreite von Themen verhandelt: es geht sowohl um Rampenbau, Gebärdendolmetscher*innen, Leichte Sprache als auch um das inklusive Auslegen biblischer Texte, den inklusiven Blick auf die Trinität und eine „Relecture“ der Bibelstellen zu Krankheit und Heilung.

Inklusion und Vielfalt bedeuten, dass „das Besondere“ selbstverständlich wird und in der Kirche und in Bildungseinrichtungen nicht nur für Menschen mit Behinderungen Barrieren abgebaut werden, sondern dass eine möglichst große und breite Teilhabe für Viele ermöglicht wird. Wenn es barrierefreie Eingänge in die Kirche gibt, freuen sich auch ältere Menschen, die nicht mehr gut Treppen steigen können. Leben und arbeiten Menschen mit vielfältigen Perspektiven und Erfahrungen zusammen – Junge, Ältere, Männer, Frauen und auch mit Beeinträchtigungen, kommen selbstverständlich vielfältige Lösungsansätze heraus. Das bereichert wiederum alle. Inklusion ist ein Thema und eine Aufgabe für die weltweite Kirche. Die meisten Menschen mit Behinderung weltweit leben im Globalen Süden.

Theologie wird inklusiv

In einem Projekt der Christoffel-Blindenmission (CBM) in Tansania wird gemeinsam mit einer Berufsschule und der Partnerkirche Praktisches und Theologisches miteinander verbunden. Eine Rampe zu bauen, ist erst der Anfang. Eine theologische Fortbildung findet nicht l’art pour l’art statt. Inklusiv denken und handeln bedeutet „zusammen“: Wenn wir es ernst nehmen, dass Gott uns alle zu seinem Ebenbild geschaffen hat, dann ergibt sich daraus ein eindeutiger Auftrag zur Inklusion von der Familie bis hin ins Pfarramt.

Das Bild Gottes, das in der Bibel erzählt wird, ist vielfältig und zeigt sich als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Und dieser Sohn Gottes zeigt sich wiederum in menschlicher Schwachheit, Gebrochenheit und Tod und bleibt trotzdem: Gott. Alle Personen der Trinität haben unterschiedliche Aufgaben, vielleicht sogar Kompetenzen. Eine einzige Beschreibung würde Gott nie ausreichend beschreiben können. Vielfalt ist also in der Trinität angelegt. Auch die Schöpfung der Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtern stellt gemeinsam Gottes Ebenbildlichkeit dar. Nicht nur der Mann, nicht nur der Gesunde sind Gottes Ebenbild, sondern alle Geschlechter, Menschen in jeder Lebenslage. Gott war Baby, leidend und sterbend, auch stark und mächtig und ewig lebend.

Nicht bedürftig, sondern kompetent

Wenn wir Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen nicht mehr als Bedürftige sehen, sondern als Teil der Gemeinschaft mit denselben (Menschen-)Rechten und denselben Zusprüchen Gottes, dann beginnt Inklusion. Wenn also nicht Bedürfnisse, sondern Kompetenzen im Vordergrund stehen, kommen wir vielleicht weg von der Einteilung der Anderen in Gruppen, Identitäten und Zuschreibungen. Und so kann dann auch Vielfalt entstehen. Dann gehören selbstverständlich Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtern, unterschiedlichen Alters und mit Beeinträchtigung dazu, aber nicht über eine starre Identitätspolitik, sondern weil sie Teil der Community sind.

So könnte man das auch in Tansania mit der CBM ausbuchstabieren: Können Menschen mit Behinderung Gottesdienste und kirchliche Veranstaltungen besuchen? Können möglicherweise weitere kirchliche Berufsschulen inklusiv gestaltet werden? Können diakonische Gemeindegruppen darin unterstützt werden, inklusiv zu arbeiten? Wie können noch mehr Lehrer*innen geschult werden, inklusiv zu unterrichten?

Wenn „Behinderung“ nicht mehr das Kriterium ist, sondern Vielfalt, entsteht hoffentlich Ganzheit.

Silja Joneleit-Oesch


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