In die Weltsicht der Anderen eintreten
Wenn Verschiedenheiten zunehmen, nehmen auch die Konflikte zu. Das ist auch in der weltweiten Kirche so. Aber das muss kein Grund sein, sich voneinander zu trennen. In seinem Blogbeitrag erklärt Anton Knuth Wege, wie das gelingen kann.
Die sozial vereinigende Kraft der Kirche Jesu Christi ist seit ihren Anfängen ihr zentrales Kapital gewesen. Die biblischen Texte bieten Hinweise, wie diese Einheit zu verstehen ist und welche Rolle Differenzen dabei spielen. Auch das Urchristentum war kein Idyll, sondern es gab interkulturelle Konflikte zwischen Jerusalem und Rom, Antiochien und Alexandrien, Thora-treuen Jüd*innen und enthusiastischen Hellenist*innen. Für die biblischen Texte ist Diversität weder ein Problem noch eine Errungenschaft. Sie ist eine Gestaltungsaufgabe, die mit der Bereitschaft der Umkehr und Erneuerung für ein geistliches Wachstum einhergeht. Kirche – das ist der Traum von der Schönheit der Differenz.
© Foto: Greg Rakozy/unsplash | Die Weltsicht der Anderen einzunehmen kann helfen, Konflikte zu überwinden.
Kirchliche Einheit wurde in Deutschland lange als territoriale Einheit verstanden in der Form von Volkskirchen, die alle Menschen in der jeweiligen Region in der selben Konfession umfassen. Wie können aber die volkskirchlichen Gemeinden angesichts der vermehrten Migration Ökumene vor Ort neu gestalten? Es hat sich eine Migrationsökumene gebildet, die aber in unseren weißen Gemeinden keinen Ort findet. Die Anderen erscheinen als zu verschieden, zu schwer verständlich.
Auch Christ*innen sind oft in einem eurozentrischen Überlegenheitsgestus gefangen oder durch rassistische Stereotypen geprägt. In der interkulturellen Begegnung können wir in die unterschiedlichen Verstehenshorizonte hineinwachsen und so ausschließliche Alternativen hinter uns lassen. Eine ökumenische Haltung rechnet damit, dass es sich lohnt unterschiedliche Haltungen miteinander ins Gespräch zu bringen, konfliktive Themen miteinander auszuhandeln und so miteinander zu wachsen und sich zu verändern.
In Verschiedenheiten hineinwachsen
Die Geschichte der Kirchen zeigt, dass sich unterschiedliche Positionen durchaus im Laufe der Zeit verändern, oft beeinflusst durch sich wandelnde gesellschaftliche Umstände. Welchen Einfluss hat die Migration auf unsere Kirchen? Es gilt sich gegenseitig aufeinander einzulassen, zu verändern, eine differenzsensible Kirche zu fördern.
Wir leben in einer polarisierten Welt, in der sich jede*r gegen jede*n abgrenzt. Das Fremde wird als Infragestellung, ja als Bedrohung empfunden! Es stimmt, wenn Verschiedenheit zunimmt, nehmen auch die Konflikte zu. Die Kräfte der Einheit werden schwächer und der Kampf für die eigenen Partikularinteressen stärker. Jesus hat nicht, um des lieben Friedens willen, Konflikte unter den Teppich gekehrt. Er hat Missstände aufgedeckt. Aber der Glaube an Jesus Christus beinhaltet, dass wir andere Menschen nicht abschreiben, dass wir bereit sind, uns Zeit zu nehmen, die Position des Gegenübers zu verstehen, die Welt mit ihren Augen zu betrachten und in die Verschiedenheiten hineinzuwachsen, so dass sie uns nicht mehr trennen.
Wir sind immer wieder gefordert, Konflikte zu verstehen. Verstehen aber heißt nicht zwangsläufig akzeptieren. Es gibt auch eine Anerkennung ohne Akzeptanz. Sich darum zu bemühen, die Position der Anderen zu verstehen, bringt die Bereitschaft der Selbstkritik ebenso wie der Erneuerung mit sich.
Eine Einheit, die nicht statisch ist
Die Einheit in Christus ist uns vorgegeben und sie ist uns auch aufgegeben. Es ist eine Einheit, die nicht statisch ist, sondern sich durch Verwandlung entwickelt. Die davon lebt, sich gegenseitig verletzlich zu machen und Neues zu lernen. Es geht darum, einen kontinuierlichen inneren Dialog zu stärken, der es ermöglicht, unterschiedliche Standpunkte und Erfahrungen zu würdigen, ohne die Einheit des Glaubens zu gefährden.
Es gilt überkommene Barrieren und Trennungen zwischen Menschen aufzuheben, um die „Schönheit der Differenz“ zu entdecken. So sollte es angesichts der Globalisierung des Christentums in Zukunft zu einer stärkeren Verknüpfung der weltweiten ökumenischen Partnerschaftsbewegung mit der interkulturellen Kirchenentwicklung vor Ort im Sinne einer kosmopolitischen Kirche kommen. Es braucht dazu Begegnung von Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven.
Gegenläufige Bewertungen sind kein Hinderungsgrund für gemeinsames Leben, Teilen, Feiern und Lernen. Entscheidend sind vielmehr Begegnungen, die aus den tragfähigen Beziehungen entstehen. So lässt sich angesichts zunehmender Pluralität und Diversität die Sprache der fremden Nachbar*innen lernen und auch auf leise Stimmen hören. Der eigene Horizont wird erweitert und bereichert, wenn ich es wage in die Weltsicht der Anderen einzutreten.
Anton Knuth
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