Iran - Solidarität in Aussichtslosigkeit
Das Regime im Iran hat die Protestbewegung von den Straßen vertrieben. Nachrichten von verschärften Kopftuchkontrollen, Festnahmen und verhängten Haftstrafen für Prostestierende und System-Kritiker*innen erreichen zwar auch westliche Medien, doch insgesamt ist der Iran von der Weltgemeinschaft eher isoliert. Der Druck auf die (kritische) Bevölkerung, insbesondere Frauen, ist hoch. Die Situation scheint aussichtslos. Die darunter leidenden Menschen im Iran brauchen unsere Solidarität. Aber wie können wir uns solidarisch verhalten? Zum Beispiel indem wir persönliche Geschichten der Menschen erzählen, hören und weiterverbreiten. Eine dieser Geschichten erzählt Kirsten Wolandt in ihrem Blog-Artikel.
Afsaneh lernte ich in meinem letzten Teheraner Jahr 2022 kennen. Sie studiert Psychologie. Obwohl sie 28 Jahre alt ist, wohnt sie immer noch bei ihren Eltern. Als unverheiratete Frau und mit bescheidenem Einkommen durch einen Nebenjob könnte sie sich keine eigene Wohnung leisten.
© Foto: Mehrshad Rajabi/unsplash | Den Alltag zu bewältigen, wird im Iran immer schwieriger.
Als ich sie das erste Mal besuche, sind auch ihre Eltern da. Es gibt Abendessen, die Mutter hat sehr lecker gekocht. Wie im Iran üblich sitzen wir um ein auf den Boden gebreitetes Tuch, dem Sofreh. Obwohl die Familie wenig Geld hat, haben sie sich Mühe gegeben und richtig aufgetischt. Das vorausahnend habe ich ein schönes Gastgeschenk mitgebracht.
Dinge, über die nicht gesprochen wird, existieren auch nicht
Afsaneh ist ohne Kopftuch, ihre Mutter, sie ist ein paar Jahre jünger als ich, trägt ein Kopftuch. Die Familie kommt aus einem religiös-traditionellen Hintergrund. Dass Afsaneh alleine ausgeht und ihr Kopftuch locker bis gar nicht trägt, ist für die Eltern trotzdem kein Problem. Dass sie einen Freund hat, ahnen sie – gesprochen wird darüber nicht, nicht im Familienkreis und natürlich erst recht nicht mit der Verwandtschaft. Eine nicht ganz untypische Strategie in einem Land, wo so vieles nicht erlaubt ist, was in einem freien Land selbstverständlich wäre. Dinge, über die man nicht spricht, scheinen irgendwie auch nicht zu existieren – diese Vermeidungsstrategie gibt es in der Politik wie im privaten Leben.
Bei einem meiner nächsten Besuche fällt mir ein geschnitztes Kruzifix in Afsanehs Zimmer auf, das beim ersten Mal nicht dort hing. Sie erklärt mir, sie habe es von einer Freundin bekommen. Diese sei ebenfalls Muslima, wüsste aber, dass Afsaneh sich für andere Lebensformen und andere Religionen interessiert. Bei meinem ersten Besuch habe sie es vorher abgehängt. Ich sollte nicht den Eindruck bekommen, sie wolle mich in irgendeiner Form beeindrucken oder beeinflussen.
Im Iran kann man jede Unterstützung gut gebrauchen
Wie viele Menschen im Iran ist Afsaneh der Meinung, dass die Religion viel zu sehr das private Leben der Menschen bestimmt. Ein Großteil der Bevölkerung sieht das ähnlich und hat sich grundsätzlich von der Religion abgewandt. Andere basteln sich einen synkretistischen Glauben zusammen u. a. mit Versatzstücken aus der alten persischen vorislamischen Religion oder Gedanken aus dem Christentum. Auch Afsaneh findet: In einem Land wie dem Iran kann man jede Unterstützung gebrauchen, auch die des christlichen Gottes.
Von Frühjahr bis Sommer 2022 sehen wir uns regelmäßig. Unsere Treffen enden mit meinem Wegzug im Sommer, einige Monate bevor mit dem Tod von Mahsa Amini im September 2022 die Frau-Leben-Freiheit-Bewegung im Iran ausbricht. Ich verfolge die Proteste von Deutschland aus: Die anfänglichen Hoffnungen der Protestierenden und ihren ungeheuren Mut, die brutale Niederschlagung der Aufstände, die sich ausbreitende Ernüchterung, die Resignation, die inzwischen eingekehrt ist. Auch von Afsaneh erhalte ich inzwischen sehr ernüchternde Nachrichten: Das Leben wird immer teurer, die Sittenpolizei ist allgegenwärtig, an der Universität werden progressivere Lehrkräfte gegen linientreue Dozenten ausgetauscht, von der übrigen Welt fühlen sich viele vergessen, der Gaza-Krieg (und die Unterstützung des Terrors durch die iranische Regierung) scheint Iran und seine Bevölkerung noch einmal mehr isoliert zu haben.
Symbolisch mit der Welt verbunden
Mir fällt ein weiteres Detail ein: In Afsanehs Zimmer hing auch eine politische Weltkarte mit den Flaggen aller Staaten. Die israelische Flagge fehlte natürlich – die Karte war ja im Iran gedruckt. Afsaneh hatte selbst eine gemalt und dazu geklebt. Unlängst habe ich sie danach gefragt. Natürlich, sagt sie, hat sie beide noch in ihrem Zimmer: Die Weltkarte mit der Flagge wie auch das Kruzifix. Durch beide fühlt sie sich weiterhin mit der Welt verbunden.
Inzwischen höre ich kaum mehr von Protesten im Iran. Viele, die 2022 auf die Straße gegangen sind, sind in Haft, viele haben das Land verlassen, die meisten versuchen ihren Alltag zu bewältigen, der durch zusätzliche Beschränkungen und die anhaltende Inflation immer schwieriger wird. Mir gehen Afsanehs Worte nicht aus dem Kopf, dass sie sich verbunden fühlt mit der Welt und ich frage mich, wie sehr das umgekehrt auch noch der Fall ist – in einer Zeit, in der die aktuellen Konflikte alte Grenzen zwischen Ländern und Religionen erstarken lassen. Während der „Frau-Leben-Freiheit“-Bewegung , so finde ich, gab es eine deutlich differenzierte Wahrnehmung der Situation. Ich wünsche mir, dass wir nicht in alte Feindbilder zurückfallen.
Kirsten Wolandt
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