Lasst uns nicht über Frieden reden, sondern über Sicherheit
Die gesellschaftliche Debatte, wie mit der unsäglichen Situation in der Ukraine, dem Krieg vor unserer Haustür umzugehen ist, kommt nicht zur Ruhe. Auch innerhalb unserer Kirchen wird die Frage, welche Mittel die geeigneten seien, diesen Krieg zu beenden und weiteres Leid zu verhindern, kontrovers diskutiert. „Gut dabei ist, wenn wir miteinander im Gespräch sind und auch bleiben. Manchmal kann ein Bibeltext dafür ein Aufhänger sein“, erklärt Peggy Mihan und kommt zu einer überraschenden Forderung.
Die Worte aus dem Hebräerbrief, „Lasst uns aufeinander achthaben und einander anspornen zur Liebe und zu guten Werken“, klingen einfach und selbstverständlich. Zusammenhalten, aufeinander achthaben, einander anspornen: Drei Dinge, die gut zusammenpassen. Auf den ersten Blick keine große Herausforderung. Oder doch? Wo ist der Ruf nach Zusammenhalt heute angebracht? Wo sind die gesellschaftlichen Zerreißproben der heutigen Zeit? Was sagen wir als Christ*innen zum Thema Waffenlieferungen in die Ukraine? Schwer zu sagen? Heikel? Klarer Fall? Klares Ja? Klares Nein?
© Foto: Maria Lysenko/unsplash | Ist Frieden ohne Sicherheit möglich?
Auf jeden Fall ist dies eines der Themen, die polarisieren und das Potential haben, unsere Gesellschaft zu spalten. Damit haben wir eines mit der christlichen Gemeinde, an die der Hebräerbrief gerichtet ist, gemeinsam: Der Zusammenhalt der Gemeinschaft ist gefährdet. Denn lesen wir den Text im Kontext, klingt es gar nicht mehr so simpel: „Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat; und lasst uns aufeinander achthaben und einander anspornen zur Liebe und zu guten Werken und nicht verlassen unsre Versammlung, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das umso mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht.“ (Hebräer 10, 23-25)
„Und nicht verlassen unsere Versammlungen“ – Wenn das mal nicht nach Konflikt klingt! Da ist ein „Aufeinander-Achthaben“ sehr angebracht. Ohne dass wir einander wahrnehmen und aufeinander achten, uns zuhören, werden wir dem, was uns auseinandertreibt, nichts entgegensetzen können. Wir dürfen den Kontakt zueinander nicht aufgeben, sonst verlieren wir uns. Also im Gespräch bleiben, auch wenn es anstrengend ist. Was hilft, ist, den eigenen Standpunkt gut zu kennen und – ganz wichtig – ihn immer mal zu hinterfragen. Das bedeutet, offen zu bleiben, eventuell für ein „Anders“, vielleicht auch für ein Umdenken.
Gilt Schwerter zu Pflugscharen noch, wenn Völkerrecht gebrochen wird?
Kommen wir noch einmal zurück zu meiner Frage: Waffen in die Ukraine? Ja oder nein? Oder: Gilt Schwerter zu Pflugscharen noch, wenn Völkerrecht gebrochen wird? Kleiner Exkurs: Das Völkerrecht regelt den Umgang der Staaten miteinander mit dem Ziel, den Weltfrieden zu erhalten und das Weltgemeinwohl zu stärken. Der russische Angriff auf die Ukraine, die Annexion von ukrainischen Gebieten und Kriegsverbrechen sind eklatante Verstöße gegen das Völkerrecht.
Leider wird Völkerrecht immer wieder gebrochen, auch vonseiten des Westens. Ich erinnere an Jugoslawien im Jahr 1999, Irak 2003. Selbst der Beschluss des Bundestages zur Evakuierung von einheimischen Mitarbeitenden der Friedenstruppen aus Afghanistan war völkerrechtswidrig, weil er weder die Zustimmung der Taliban noch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats hatte und damit die Souveränität Afghanistans verletzte. (Deutschland hat dabei Truppen in einen fremden Staat entsendet, ohne zuvor dessen ausdrückliche Erlaubnis einzuholen. Das ist gleichbedeutend einem völkerrechtlich verbotenen Akt der Gewalt, ja sogar einer Angriffshandlung.) Dabei fand ich es so richtig, Menschen aus Afghanistan herauszuholen, um sie vor Repressalien im eigenen Land zu schützen.
Was ein „gutes Werk“ ist, ist immer auch eine Frage der Perspektive. Jeder Bruch des Völkerrechts trägt dazu bei, dass nicht die „Stärke des Rechts“, sondern das „Recht des Stärkeren“ zum Tragen kommt. Auch in diesem Fall: Wir haben es einfach mal gemacht. Und ich fand es richtig. Genauso, wie ich es gar nicht richtig fand, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Mal eben so.
Da steh ich plötzlich da, mit meinen friedensethischen Grundsätzen: „Niemals Gewalt!“. Ich steh da und sehe zu, wie Städte zerbombt werden, Familien auseinandergerissen werden, wie sich die Spirale der Gewalt immer weiterdreht. Wir sind schon jetzt an dem Punkt, wo es keine Gewinner*innen mehr geben wird. Zuviel ist geschehen.
Wer braucht welche Sicherheiten?
Jetzt zählt nur noch die Frage: Wie kann dieser Krieg beendet werden, um nicht noch mehr Leid und Zerstörung zu bringen? Wer braucht welche Sicherheiten?
Für die Ukraine bedeutet Sicherheit, dass auf ein Friedensabkommen keine erneuten russischen Drohungen oder Übergriffe folgen, für Russland, dass auf seinen Rückzug aus der Ukraine keine Aufnahme der Ukraine in die Nato erfolgt. Wie soll das funktionieren?
Dietrich Bonhoeffer hat als 28-Jähriger fünf Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs bei einer großen Tagung des ökumenischen Weltbunds auf Fanö gesagt: „Wie wird Friede? Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? D. h. durch die Großbanken, durch das Geld? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens? Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und lässt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern, heißt Misstrauen haben, und dieses Misstrauen gebiert wiederum Krieg. (…) der einzelne Christ kann wohl, wo alle schweigen, die Stimme erheben und Zeugnis ablegen, aber die Mächte der Welt können wortlos über ihn hinwegschreiten. Die einzelne Kirche kann auch wohl zeugen und leiden – ach, wenn sie es doch täte –, aber auch sie wird erdrückt von der Gewalt des Hasses.“ Die einzige Chance sieht er darin, dass die Weltgemeinschaft der Christ*innen sich verbünde und sich mit einer Stimme gegen die Mächtigen, die Tyrannen, die den Frieden mit Füßen treten, entgegenstelle.
„Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. (…) Friede ist das Gegenteil von Sicherung.“ Was für ein Dilemma. Ist Frieden also nur eine ferne vage Hoffnung, die sich nie erfüllen wird? Ist es das, wovon wir sprechen, wenn wir sehnsuchtsvoll vom „Reich Gottes“ reden? Was machen wir nur angesichts der Situation in der Ukraine? Wo stehst du? Wo stehe ich?
Ein Dilemma
Was könnte passieren, wenn man jemanden wie Putin machen lässt? Wenn man sich kampflos ergeben würde? Wer hätte geglaubt, dass ein Angriff auf die Ukraine erfolgen würde? Was wäre passiert, hätten Russland und die Alliierten sich nicht Hitlerdeutschland mit militärischer Macht entgegengestellt? Vielleicht ist unter bestimmten Umständen der Weg der Sicherheit alternativlos.
Schon allein das hier so zu formulieren, fällt mir wahnsinnig schwer. In Erwägung zu ziehen, dass es richtig sein könnte, Waffen in die Ukraine zu liefern, weil damit die Hoffnung verbunden ist, Putin doch irgendwie das Handwerk legen zu können. Ein Dilemma.
Wolf Biermann kritisiert deutsche Prominente, die sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für Friedensverhandlungen mit Russland ausgesprochen haben. Ich möchte ihm gern recht geben, denn ich denke an Bilder von Demos in Ostdeutschland, wo AFD und Reichsbürger*innen sich in diesen Chor einreihen. (Hatten wir schon mal, oder?) Ich möchte ihm gern Recht geben. Doch er tut es mit folgenden Worten: „Diese falschen Pazifisten halte ich für Secondhand-Kriegsverbrecher.“ Das ist schon hart, oder? Mir fallen Geschwister ein, die um keinen Preis für Waffenlieferungen sind – die sind doch deswegen keine Secondhand-Kriegsverbrecher*innen.
Hören wir um Himmels Willen auf, uns unsere Meinungen derart um die Ohren zu hauen. Die Wenigsten machen sich das so leicht, wie man es ihnen gern zuschreiben würde. Versuchen wir besser, so gut wie wir das können, dafür zu sorgen, dass wir zusammenhalten. Als Christ*innen, als Gemeinschaft, als Gesellschaft. Wenn wir es nicht lernen, miteinander wertschätzend zu kommunizieren, dann werden wir nicht verhindern, dass wir uns spalten.
Wirklicher Frieden ist nicht möglich, ohne dass Menschen daran festhalten, dass wir als Gesellschaft eine Verantwortung haben, Menschenleben zu achten und zu schützen, Grundbedürfnisse zu respektieren, Schritte der Versöhnung zu gehen und Feindbilder zu überwinden.
Retten wir zuerst das Wort „Frieden“
Die Alternative zu friedensethischen Überzeugungen ist die Selbstvernichtung der Menschheit. Wenn wir uns dessen nicht bewusstwerden, dann können wir wirklich einpacken. Vielleicht ist es zunächst das Mindeste, uns ehrlich einzugestehen, dass wir im Fall der Ukraine nicht über Frieden, sondern über Sicherheit reden. Retten wir zuerst das Wort „Frieden“.
Und was können wir sonst tun, um „aufeinander achtzuhaben und einander anzuspornen zur Liebe und zu guten Werken“, um für Zusammenhalt zu sorgen?
„Selig sind die Sanftmütigen, selig sind die Barmherzigen, selig sind, die Frieden stiften.“ Wenn wir miteinander reden und unterschiedlicher Meinung sind, könnten wir aufhören, um jeden Preis Recht haben zu wollen. Wir könnten aufhören, Menschen für weniger wert zu halten, weil sie eine andere Meinung haben als wir. Wir könnten aufhören, ständig gute Ratschläge parat zu haben. Wir könnten Dogmen und Lehrsätze mal beiseitestellen. Wir könnten es uns verkneifen, negative (und auch positive) Werturteile zu fällen, um in einem Gespräch auf Augenhöhe zu bleiben.
Und lasst uns niemals aufhören, davon zu träumen, dass die Vision eines Micha Wirklichkeit werden könne: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“
Peggy Mihan
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