Migrationsgemeinden: Gekommen, um zu bleiben

Keine Angst vor neuen Gemeinden fordert Günter Baum und plädiert für mehr Begegnung, Austausch und Zusammenarbeit. Denn Migrationsgemeinden hätten den deutschen, etablierten Kirchen viel zu geben, wenn man sie nur ließe. Aber Baum belässt es nicht nur bei dem Appell – er macht auch konkrete Handlungsvorschläge.

Nein, die meisten Migrant*innen werden nicht wieder „nach Hause“ gehen – sie sind jetzt hier zu Hause, sie bleiben. Und nein, die meisten von ihnen sind nicht Muslim*innen, sondern Christ*innen.

Die Zukunft der Christenheit in Deutschland muss gemeinsam gestaltet werden. © Foto: Raimond Klavins/unsplash | Die Zukunft der Christenheit in Deutschland muss gemeinsam gestaltet werden.

In vielen kulturell und konfessionell unterschiedlichen christlichen Gemeinden finden sie sich zusammen: Menschen aus Afrika, Lateinamerika, aus dem arabischen Kulturraum, Osteuropa… Orthodoxe, Katholik*innen, Pfingstler*innen, Protestant*innen. Oft genug ist ihre Lage prekär: Ihre Finanzen sind mager. Sie sind zu Gast in deutschen Kirchen, in deren Gemeindeleben sie sich meist nicht zu Hause fühlen. Oder sie finden irgendwo einen angemieteten Raum im Industriegebiet, wo sie unter sich bleiben.

Zwei Anliegen von Migrationsgemeinden

Für die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Osnabrück habe ich immer wieder den Kontakt zu den ca. 20 hier vor Ort nicht etablierten Gemeinden gesucht, zuletzt durfte ich beitragen zu einem Rechercheprojekt der Uni Osnabrück (G.Etzelmüller/C.Rammelt Hg., Migrationskirchen. Internationalisierung und Pluralisierung des Christentums vor Ort. Leipzig 2022).

Zwei Anliegen habe ich bei meinen Begegnungen gehört:

  • Wir wollen uns zusammenfinden in einer Gottesdienstform und einer Sprache, die wir – kulturell, konfessionell – aus der „alten Heimat“ kennen.
  • Wir sehen, wie unchristlich Deutschland geworden ist und wollen diese „Neuheid*innen“ wieder zu Christus führen („Früher habt Ihr uns das Evangelium gebracht – jetzt bringen wir Euch das zurück“). Das habe ich insbesondere von Menschen aus Afrika gehört.

Das erste Anliegen gelingt. Manche haben Unterstützung ihrer Herkunftskirchen (ob aus Rumänien oder Nigeria) und von Ortsgemeinden anderer Konfessionsfamilien. Andere hangeln sich durch.

Die Forschung zum Thema ist nicht breit aufgestellt, aber anregend: So bleibt in der Migration die „alte“ Religion nicht unverändert. Arabisch sprechende Orthodoxe feiern ihre Liturgie mehrsprachig – weil hier so viele Anderssprachige dazukommen. Andere werden in Deutschland zu Pfingstler*innen, die sie in der „alten Heimat“ nicht waren – weil sie sich in „ihren“ deutschen katholischen oder evangelischen Gemeinden kulturell nicht wohlfühlen: Warum tanzen die beim Singen nicht, sondern sitzen steif herum? So gründen sie eigene Gemeinden, oft multikulturell zusammengesetzt aus Menschen ganz verschiedener Herkunft – Sprache ist dann oft Englisch, manchmal Französisch.

Nachaltige Zusammenarbeit bleibt häufig aus

Manche der Migrationsgemeinden haben es gut getroffen: So konnte die arabischsprachige antiochenisch-orthodoxe Gemeinde eine der aufgegebenen reformierten Kirchen in Osnabrück erwerben und hat in die denkmalgeschützte bildlose Kirche eine Ikonenwand hineingebastelt. In der städtischen Ökumene ist sie sehr aktiv dabei.

Andere waren Gäste bei Gemeinden, die die Konflikte über Lautstärke und Essensgerüche nicht ertragen konnten und ihnen gekündigt haben. Mit Ökumene vor Ort kann man ihnen nicht kommen. Die Enttäuschungen sitzen tief.

Das andere ihrer Ziele findet sich vor allem bei Geschwistern aus dem Globalen Süden, weniger aus Osteuropa. Bei der Missionierung scheitern sie meist. Ein paar sind interessiert, Exotik reizt, nachhaltige Beteiligung bleibt die Ausnahme. Und so bleibt man doch unter sich in der heimatlich empfundenen Kultur. Gelegenheiten, bei denen auch missionarisch miteinander gedacht und gearbeitet werden könnte, wie eine Lange Nacht der Kirchen oder ein ökumenischer Stadtkirchentag, bleiben doch eher ein Ding der vor Ort etablierten Gemeinden, Organisationsformen wie die ACK sowieso.

Es gibt in Deutschland – leider nicht in Osnabrück – einige wenige Aufbrüche hin zu „internationalen Gemeinden“, in denen mehr und mehr zusammen gelebt, gebetet, gearbeitet und gesungen wird. Die Waldenser in Italien sind da schon viel weiter.

Auf dem Weg zu einer neuen christlichen Gemeinschaft

Wie geht es weiter auf dem Weg zu einer neuen Gemeinschaft der christlichen Gemeinden vor Ort, also sicher auch in Eurer Gegend? Ein paar Anregungen dazu:

  • Ohne zu romantisieren: Vieles im Leben der Migrationsgemeinden lässt mich staunen, manchmal fast neidisch werden: Wie sie mit wenig Mitteln, in hässlichen Hallen statt in schönen Kirchen ihre Gemeinschaft im Glauben organisieren. Wie sich Menschen, die gesellschaftlich wenig geachtet sind, zusammenfinden zu Gottesdiensten, die sie stärken, aufrichten und ausrichten. Wie sie Geflüchtete integrieren, weil sie ihre Kultur kennen und ihre Sprache sprechen. Wie sie improvisieren. Wie sich charismatische Menschen jeden Geschlechts finden, die ehrenamtlich, ohne Pensionsanspruch, ihren Gemeinden predigen, Liturgie feiern, Sakramente verwalten. Könnte das nicht ein Weg sein, wegzukommen von verwalteter Langeweile in unseren Kirchen hin zu einem gesunden missionarischen Selbstbewusstsein?
  • Miteinander Lernen: Macht Migrant*innen nicht zu Objekten Eurer Wohltaten! Hört ihnen zu, auch ihren manchmal befremdlichen theologischen Deutungen der Weltlage. Kommt ins Gespräch über die Säkularisierungskrise, in der die deutschen Kirchen stecken. Überlegt, was Eure gemeinsame Mission vor Ort sein könnte. Betet miteinander, findet Euch zusammen zu Gottesdiensten und Workshops.
  • Hilfe gilt es anzubieten bei der Suche nach angemessenen Räumen. Unterstützung bei Behörden tut manchmal not. Man kann auch mal sammeln für die prekär lebenden Gemeinden.
  • Keine Angst vor den „neuen“ Gemeinden! In Hamburg, so sagte es mir einer der prominenten Forscher zu Migrationskirchen, gäbe es Anzeichen, dass mittlerweile mehr Schwarze als weiße Menschen sonntags in den Gottesdienst gingen. Soll sich das auswachsen zu einer narzisstischen Kränkung oder ruft das nicht zu Begegnung und Zusammenarbeit?
  • Auch wenn das sehr deutsch gedacht ist: Das Miteinander will organisiert sein. Es gibt Formen wie die „Internationale Konferenz internationaler Gemeinden“ (IKCG) in Niedersachen auch in anderen Regionen – kümmert Euch darum! Versucht immer wieder, die Migrationsgemeinden in die regionalen ACKs einzubeziehen!
  • Seid sparsam mit Romantisierungen! Die Migrationsgemeinden sind genau wie andere keine Idealgemeinden. Manche Krise haben sie ganz ähnlich – also miteinander reden und auch die Probleme teilen.

Die Zukunft der Christenheit in Deutschland muss gemeinsam gestaltet werden! Dann sind wir auf dem Weg aus der Provinzialität zu einer weltweiten Normalität von Kirche.

Günter Baum


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