Missionswerk – Ein Auslaufmodell?

Wir leben in einer Zeit, in der zu Recht vieles in der Kirche auf den Prüfstand gestellt wird. Muss es in Zukunft geben, was in der Vergangenheit einmal wichtig war? Dieser Frage stellt sich Pastor Michael Thiel, Direktor des Evangelisch–lutherischen Missionswerks in Niedersachsen (ELM), mit Blick auf das Werk, das er seit 2014 leitet.

Der Anfang der Hermannsburger Mission lag im 19. Jahrhundert. Eine Zeit, in der die Kirche viele Aufbrüche erlebte. Vereinsgründungen für Aufgaben der Diakonie, wie zum Beispiel das Raue Haus in Hamburg und Vereinsgründungen zur Ausbildung und Entsendung von Missionar*innen wie beispielsweise die Hermannsburger Mission. Beide Bewegungen sind gekennzeichnet durch charismatische Leitungspersonen und reagieren auf eine Notsituation, die von Menschen in christlicher Verantwortung wahrgenommen wurde. Die Zeit ist also durch Aufbrüche in der Kirche als Antwort auf die Herausforderung durch die Zeitgeschichte und das Lebensgefühl bestimmt. Es ist spannend zu sehen, dass in der Regel Vereine gegründet worden sind, da offensichtlich innerhalb der kirchlichen Strukturen dieser Aufbruch keinen Nährboden fand. Geistliche Aufbrüche begründeten auch die Arbeit des Evangelisch–lutherischen Missionswerks in Niedersachsen (ELM) und vieler Missionswerke.

Ist das Mission oder kann das Werk? © Foto: Jen Theodore/unsplash | Ist das Mission oder kann das Werk?

Seit 2014 arbeite ich als Direktor im ELM. Diese Jahre sind in der Gesellschaft unter anderem durch folgende Herausforderungen geprägt gewesen:

  • Mission ist ein unbequemes, ja geradezu kolonialistisch belastetes Wort geworden.
  • Skandale erschüttern die Glaubwürdigkeit der Institutionen und auch der Kirche.
  • Die Corona-Pandemie entwickelt sich als weltumspannende Herausforderung und Beispiel für weitere absehbare Pandemien.
  • Die globale Erwärmung wird ernsthaft als Problem wahrgenommen, das alle Menschen betrifft und trotzdem im Blick der Gerechtigkeitsfrage neue Ungerechtigkeiten aufwirft.
  • Die Mehrheit der Christ*innen lebt im Globalen Süden. Dort wachsen die Mitgliederzahlen, während sie im Norden abnehmen.

Sich gegenseitig ermutigen

Im ELM sind wir mit diesen Herausforderungen umgegangen und haben durch die Erarbeitung eines Konzeptes für unsere Arbeit Strukturen für einen Transformationsprozess geschaffen. Entsendungen sind ganz in den Hintergrund getreten, Austauschprogramme für unterschiedliche Zielgruppen und Zeiträume sorgen dafür, dass wir gemeinsam lernen, miteinander Weggemeinschaft gestalten können und uns nicht als Geschwister Gottes in der einen Welt aus den Augen verlieren. Internationale Konferenzen vertiefen das Gespräch zu den brennenden Themen. Teilnehmende beraten und ermutigen sich gegenseitig. Was für eine „tolle“ Entdeckung war es z. B. bei einer internationalen ELM-Konferenz 2019, als die Teilnehmenden über ihre Erfahrungen sprachen und hörten, dass viele von ihnen in unterschiedlichen Kontexten ähnlich Erfahrungen in der Kirche gemacht haben. Solidarisch haben sie sich gegenseitig ermutigt und sie sind weiter in Kontakt.

Video-Konferenzen an sich sind keine neue Erfindung, aber seit Corona sind sie ein selbstverständlicher Teil der Kommunikation geworden. Es ist leicht geworden, Menschen aus verschiedenen Ländern zu einem gemeinsamen Gespräch zusammen zu rufen.

Damit Kirchen Kirche sein können

In den persönlichen Begegnungen mit Menschen unserer Partnerkirchen habe ich viel gelernt – auch zur Einschätzung unserer Arbeit in der Vergangenheit. Die Vertreter*innen der Kirchen sind mir als Repräsentanten des ELM immer mit großem Respekt und Achtung begegnet. Das gründete vor allem in der positiven Aufnahme der Arbeit des Missionswerks und seiner Mitarbeitenden in der Vergangenheit. Sie nannten wertschätzend, dass Mitarbeitende des ELM

  • den Menschen das Evangelium gebracht haben.
  • die Kultur der Partner*innen ernst genommen und ihre Sprache gelernt haben.
  • die Gründung selbstständiger lokaler Kirchen begleitet und befördert haben.
  • durch die Besuche, Beratung und Begleitung der kirchlichen Projektarbeit diese unterstützt haben, damit Kirchen Kirche sein können.
  • zur Mitarbeit in Deutschland eingeladen haben und das für die Partner*innen ein wichtiges Zeichen ist, dass wir sie schätzen und ihnen zutrauen, etwas zu unserer Situation zu sagen zu haben.

Was ist ein Missionsauftrag?

Warum braucht es in dieser Zeit noch ein Missionswerk wie das ELM? Die Antwort muss auf verschiedenen Ebenen gegeben werden. Zunächst institutionell. In der Verfassungen der Trägerkirchen ist der Begriff der Mission verankert. Insbesondere in Paragraf 63 der Verfassung der hannoverschen Landeskirche. Dort heißt es: „Durch das Evangelisch-lutherische Missionswerk in Niedersachsen beteiligt sich die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers in Gemeinschaft mit anderen Landeskirchen an der weltweiten Wahrnehmung des Missionsauftrages der Kirche und seiner Vermittlung in Deutschland.“

Dann muss inhaltlich geantwortet werden. Was verbirgt sich hinter dem Begriff Missionsauftrag? Im ELM sehen wir darin den Auftrag Gottes, als HERRN der Mission, in diese Welt die Gute Nachricht von Christus in Wort und Tat zu den Menschen zu bringen. Wir tun das dort, wo wir als Personen leben und arbeiten und vor allem auch dort, wo wir mit Menschen der Träger- und Partnerkirchen zusammen arbeiten. Dabei erfüllt das Missionswerk eine Art Brückenfunktion. Im Kontext von Gottesdiensten, Projekten, Begegnungen und Themenarbeit vernetzen wir Menschen und Kirchen und bringen sie an einen Tisch. Die Erfahrung der weltweiten Kirche und der Gemeinschaft, die über Grenzen hinweg entsteht und wächst unter denen, die sich im Glauben und gemeinsamen Handeln als „Verwandte“ erfahren, ist nicht zu unterschätzen. Einerseits ist das ein Wert an sich, andererseits ein wichtiger Beitrag zum Gelingen des Zusammenlebens in einer immer globaler werdenden Welt, in der Entfernungen keine Rolle mehr spielen, Probleme nur noch transnational gemeinsam gelöst werden können, die Vermischung von Kulturen und Gesellschaften weiter fortschreitet und Religionen auch in ihrer Unterschiedlichkeit einen entscheidenden Beitrag zum Frieden und zur Gerechtigkeit beitragen müssen.

Miteinander reden, gemeinsam handeln

Als Geschwister des einen HERRN können wir nicht nachlassen, miteinander zu reden, gemeinsam zu handeln, uns gegenseitig und andere immer wieder einzuladen, unseren Horizont zu erweitern und das Gemeinsame zu entdecken und so Christus unter uns Raum zu geben, damit Glaube lebendig wird.

Manchmal bekomme ich Mails, die tragen die Unterschrift: Yours in HIS service. Um diesen Dienst, um diese Mission geht es. Sie ist Gottes Mission. Das Missionswerk kann Motor und Mahner in den Trägerkirchen sein, in Gottes Namen zueinander und füreinander einzustehen.

Solange Kirchen den Auftrag, der aus der Missio Dei hervorgeht annehmen und aufnehmen wollen, braucht es dieses Missionswerk. Und es braucht den Willen, sich zu verändern und immer wieder neu auf den Auftrag Gottes zu hören.

So ist das Missionswerk inzwischen eine andere Antwort auf die Herausforderungen der Zeit. Es will reagieren auf unsere Zeit. Nur so gewinnt es seine Relevanz.

Michael Thiel


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