Schönheitsideale sind kulturelle Ansichtssache
Seit ihrer Kindheit in Indien träumte Mercy Rethna davon, weiß zu sein – so wie Jesus und die blondgelockten Märchenfiguren. Erst während ihres Freiwilligendienstes in Deutschland erkannte sie, dass Schönheitsstandards relativ sind und dass es bei Gott auf ganz andere Dinge ankommt.
Hallo, schön euch kennenzulernen! Kann ich bitte ein Foto mit euch machen?“, fragte ich das hellhäutige Paar, das mit mir und meiner Familie Englisch sprach. Dies war eines der vielen Fotos, die ich mit Tourist*innen in meiner indischen Heimat gemacht habe. Was ich damit getan habe? Ich habe mir diese Fotos tausende Male angesehen und gedacht: „Wie schön sie sind! Neben ihnen sehe ich mit meiner dunklen Haut viel hässlicher aus!“ Einer meiner Onkel sagte dann immer: „Du weißt gar nicht, was du hast! Du solltest in andere Länder reisen, um herauszufinden, wie schön du eigentlich bist.“ Ich dachte, er wollte mich mit diesen Worten nur trösten, aber erst nachdem ich nach Deutschland gekommen bin, wurde mir klar, dass seine Worte sehr wahr waren!
© Foto: Nicolas Ladino Silva/unsplash | Darf ich bitte ein Foto von Dir machen?
Ich war schockiert, als ich die Selbstbräuner in den deutschen Geschäften sah. In Indien haben wir genau das Gegenteil davon: die „Fairness-Creme“. Mit der Fairness-Creme sieht deine Haut für ein paar Stunden heller aus. Während ich in Parlour mit De-Tanning-Gesichtsbehandlungen beschäftigt war, gab es eine andere Person in Deutschland, die sich sonnte, um brauner zu werden. Ist das nicht verrückt? Seit meiner Kindheit träumte ich immer davon, so auszusehen wie die Märchenfiguren: mit blonden Haaren und blauen Augen. Als ich meinem deutschen Mitbewohner mein Facebook-Profil von vor ein paar Jahren zeigte, wurde mir klar, dass ich nur diese märchenhaften Bilder verwendet hatte! Deshalb war Deutschland in meiner ersten Reisewoche wie ein Märchenland für mich, als ich viele dieser märchenhaften Menschen im wirklichen Leben sah.
Selbstbräuner vs. Fairness-Creme
Nach einem halben Jahr in Deutschland hatten sich viele meiner Sichtweisen und Vorstellungen über meinen eigenen Schönheitsanspruch geändert. Als mir Leute sagten, dass sie meine Hautfarbe haben wollten, und meinten, dass ich wirklich hübsch aussehe, fing ich an zu denken, dass ich vielleicht nicht so hässlich bin, wie ich immer dachte. Die Besitzer*innen einer Ferienwohnung fragten mich, ob sie mit mir zusammen ein Foto machen dürften, da sie bisher noch nie eine*n Ausländer*in in ihrer Wohnung hatten. Ich sah sie oft über das Foto lächeln, während sie sagten, dass es wunderschön sei – da ich auf dem Foto war, war ich auch ein wunderschöner Teil davon, richtig? Ich wurde auch an mein eigenes Interesse erinnert, Fotos mit Menschen zu machen, die anders aussahen als ich. Und dann … passierte das Unerwartete! Ich wurde von einer Modelagentur für ein Fotoshooting in Leipzig eingeladen! Ich habe das Angebot nicht angenommen. Ich hatte mich nur aus Interesse bei einigen Modelagenturen beworben, um zu sehen, ob sie mein Profil überhaupt berücksichtigen würden. Aber was ich definitiv getan habe, war, diesen Brief nach Indien zu bringen und ihn vielen meiner Freund*innen zu zeigen, die mit ihrer Hautfarbe unzufrieden sind!
Wie sah Jesus aus?
Das Interessante an all dem ist, wie wir diese Schönheitsstandards auch innerhalb des Christentums anwenden. Als ich einen meiner Freunde zum ersten Mal sah, dachte ich, er sieht genau aus wie Jesus. Er hatte genau die Merkmale, die in Indien für „Jesus-Doppelgänger“ gelten – ein langes, schmales Gesicht, eine spitze Nase und blaue Augen, langes glattes blondes Haar und natürlich weiße Haut. Ich habe ihn immer „Jesus“ genannt, was er nicht wirklich mochte! Ich brauchte einige Jahre der Recherche und Diskussionen, um zu verstehen, dass Jesus tatsächlich eher wie ich als wie mein Freund aussah! Ich war schockiert, als ich einen Artikel mit einigen historischen Beweisen darüber las, wie Jesus tatsächlich ausgesehen hat. Schade, dass viele Menschen in Indien und anderen einst kolonisierten Ländern immer noch glauben, dass Jesus weiß und damit gefühlt überlegen aussah. Das ist einer der Gründe, warum mich meine nicht-christlichen Freunde aus Indien drangsalierten und sagten, ich gehöre einer „westlichen Religion“ an.
Dabei geht es nicht nur um Jesus: Auch Maria und jede andere biblische Figur wird mit diesen Merkmalen dargestellt. Zum Beispiel war ich verwirrt, als ich hier ein Krippenspiel sah, in dem einer der drei Könige schwarz geschminkt war, um König Balthasar darzustellen, während wir in Indien immer nach drei hellhäutigen Kindern suchen, um diese Rollen zu besetzen, oder weißes Make-up verwenden. Auch ich habe in meiner Kindheit als einer der Könige oft im Krippenspiel mitgespielt – mit weißem Make-up!
Was sagt die Bibel?
Ich möchte zwei meiner Lieblingsverse zitieren. Das erste aus dem Alten Testament lautet: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an.“ (1. Samuel 16,7) Es macht deutlich, dass, was auch immer wir denken, Schönheitsstandards völlig anders sind als das, was Gott denkt, und es erinnert uns auch an das bekannte Sprichwort: „Beurteile ein Buch nicht nach seinem Einband“. Der nächste Vers stammt aus dem Neuen Testament: „Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen; es ist über alle derselbe Herr, reich für alle, die ihn anrufen.“ (Römer 10,12) Dies macht deutlich, dass alle nach Gott gleich sind und die Schönheitsstandards von uns Menschen erdacht werden, je nachdem, wo wir leben oder woher wir kommen. Was wir schön oder hässlich nennen, hat wirklich nichts damit zu tun, wie Gott uns sieht.
Was von Bedeutung ist
„Kann ich bitte ein Foto mit Dir machen?” Ich frage euch alle, die ihr dies jetzt lest, nicht, weil ich nur das Äußere toll finde, sondern weil Du von innen und außen schön bist. Wenn eine Person von Herzen schön ist, verbreitet sie durch ihre guten Taten weiterhin Glück unter anderen, und das ist es, was die eigentliche Schönheit genannt werden sollte.
Mercy Rethna
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