Schutz indigener Völker: Meilenstein mit Anspruch auf Umsetzung

Am 23. Juni 2022 tritt für Deutschland die ILO-Konvention 169 zum Schutz indigener Völker in Kraft. Viele Partner des Ev.-luth. Missionswerks in Niedersachsen (ELM) und anderer Missionswerke freuen sich über diesen Schritt und sehen Deutschland damit als wichtigen Verbündeten, Verteidiger und Förderer der Rechte indigener Völker. Wird die Bundesregierung diesem Anspruch gerecht?

Ungewohnte Eintracht: Im Frühjahr 2021 votierten CDU/CSU, SPD, FDP, die Grünen und die Linke allesamt für das Gesetz zur Ratifizierung der Konvention 169 der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz eingeborener und in Stämmen lebender Völker. Fast so als seien sie zum Ende der Legislaturperiode in lockerer Geberlaune, machten sich die Sprecher*innen der Fraktionen Argumente zu eigen, die zivilgesellschaftliche und kirchliche Organisationen seit Jahrzehnten in den Ring warfen, ohne jemals politische Mehrheiten dafür zu erhalten. Insbesondere wurde die Signalwirkung in Bezug auf internationales Recht und den Menschenrechtsschutz weltweit unterstrichen. Plötzlich war es möglich und die Freude riesengroß.

Indigene haben einen großen Erfahrungsreichtum in Bezug auf belastbare Konzepte von Nachhaltigkeit. © Foto: Deb Dowd/unsplash  | Indigene haben einen großen Erfahrungsreichtum in Bezug auf belastbare Konzepte von Nachhaltigkeit.

Die Konvention setzt inhaltliche Standards und gilt als das einzige international völkerrechtlich verbindliche Instrument zum Schutz indigener Völker. Sie umfasst 44 Artikel, insbesondere das Recht auf Land sowie auf kulturelle, sprachliche und religiöse Selbstbestimmung sowie zahlreiche Diskriminierungsverbote. Außerdem gelten umfängliche Konsultationsrechte bei der Ausbeutung von Ressourcen (Art. 15) und, „wann immer gesetzgeberische oder administrative Maßnahmen, die sie unmittelbar berühren können, erwogen werden“ (Art. 6). Dieses Recht auf „freie, vorherige und informierte Zustimmung“ (FPIC) wurde in der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker (UNDRIP) weiter präzisiert.

Das Übereinkommen stammt aus dem Jahr 1991, insgesamt 24 Länder haben die Konvention bislang angenommen, darunter neben vielen süd- und mittelamerikanischen Ländern etwa auch Spanien, die Niederlande, Norwegen und Luxemburg. Für Deutschland wird die Konvention ein Jahr nach Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde in Kraft treten, also am 23. Juni 2022. In diesen vergangenen zwölf Monaten seit besagter Bundestagsdebatte haben sich die Krisen dieser Welt mindestens in folgenden zwei Punkten dramatisch verschärft:

  • Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist ein weiterer völkerrechtswidriger Krieg vom Zaun gebrochen, der die brutal-mörderische und menschenverachtende Logik von Krieg als Mittel der Politik in ungeahnte Nähe zu Deutschland und Europa gebracht hat. Die globale Sicherheitsarchitektur ist ins Wanken geraten. Plötzlich sind Erwägungen zu Sicherheitspolitik, NATO und Bundeswehrhaushalt die alles dominierenden Themen.
  • Es setzt sich die Erkenntnis durch, dass wir nicht auf einen „Klimawandel“ zusteuern, sondern schon mittendrin sind in der globalen Klimakatastrophe: 50 Grad Celsius in Pakistan und Indien, Überflutungen in Südafrika, Waldbrände, Extremwetter, Ernteausfälle auf allen Kontinenten. Das 1,5-Grad Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens ist in weite Ferne gerückt, eine tatsächliche Reduktion der jährlichen globalen Treibhausgasemissionen kaum in Sicht.

Vor diesem Hintergrund greifen die Begründungen in Bezug auf die Rechte und das Leben indigener Völker zu kurz. So betonte Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, dass „indigene Völker, die überall auf der Welt in ihrer Existenz bedroht sind, oft vom politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben ihrer Länder ausgeschlossen [werden].“

Ja, es ist richtig: Indigene Territorien werden zerstört, Rechte auf Selbstbestimmung mit Füßen getreten, indigene Menschenrechtsverteidiger*innen verfolgt und ermordet. Wir müssen sie schützen, die Menschen, die Rechte und die Naturräume. Indigene Völker haben einen Anspruch auf diese in der Konvention definierten Rechte.

Lebenswerte Zukunft sichern

Darüber hinaus ist als weiteres Argument zu bedenken, dass die Unterzeichner-Staaten auch um ihrer selbst willen ein Interesse an einem umfänglichen Schutz indigener Völker haben, sozusagen zur Durchsetzung ihrer/unserer eigenen Rechte auf eine lebenswerte Zukunft.

Deutschland hat als viertgrößte Industrienation in den vergangenen Jahrzehnten kräftig mitverdient an der Ausbeutung von Ressourcen weltweit, an den Sojafeldern im Amazonas für die Tiermast, an Rohstoffen für die Industrie, an Staudämmen und Straßenprojekten. Dabei wurden sowohl andere geschädigt als auch unsere eigenen, globalen Lebensgrundlagen zerstört. Das Wohl der Menschheit liegt nicht in der Errichtung von noch mehr Staudämmen, Straßen, Bergwerken und Monokulturen, sondern in der Erlernung nachhaltiger Konzepte im Umgang mit der paradiesischen Schöpfung.

Der Schutz indigener Völker, indigenen Wissens und indigener Traditionen ist auch eine Konsequenz aus der Einsicht, dass wir ein radikal anderes, nicht zerstörerisches und nicht auf fossilen Ressourcen basiertes Lebens- und Wirtschaftssystem brauchen. Indigene sind Verbündete im Kampf gegen Entwaldung und Naturzerstörung, sie haben einen großen Erfahrungsreichtum in Bezug auf belastbare Konzepte von Nachhaltigkeit, etwa die Ideen des „Buen Vivir“. Dazu gehört die Vorstellung, dass die Natur (z. B. der Fluss) selbst Rechtsträger ist und ein Recht darauf hat, nicht verschmutzt zu werden.

Indigene Vertreter von COMIN aus Brasilien 2014 zu Gast in Hannover. © Foto: ELM | Indigene Vertreter von COMIN aus Brasilien 2014 zu Gast in Hannover.

Unsere Partner in Brasilien sehen Deutschland mit der Ratifizierung der ILO 169 als Verbündeten: „Mit der Verabschiedung des ILO-Übereinkommens 169 übernehmen die Staaten die Verantwortung, die diskriminierenden und rassistischen Praktiken zu überwinden, die in der Vergangenheit zur Ausrottung der indigenen Völker geführt haben, indem sie ihre Rechte leugneten und ihre soziokulturellen Organisationsformen missachteten. Damit werden die Unterzeichnerstaaten auch zu Verbündeten, Verteidigern und Förderern der Rechte indigener Völker, indem sie die Verwundbarkeit und die Rechtsverletzungen, unter denen diese Völker leiden, anerkennen und die Staaten dazu verpflichten, Gesetze und Maßnahmen zum Schutz der indigenen Völker zu erlassen“, erklärt Marcos Vesolosquki, Vertreter der „Kaingang“, Jurist und Mitarbeiter im Team des COMIN, dem Indigenen-Missionsrat der Evangelischen Kirche lutherischen Bekenntnisses in Brasilien.

Eine politische Querschnittsaufgabe

Vor diesem Hintergrund fordert der Koordinationskreis ILO 169, ein Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Netzwerken und Expert*innen, dass Deutschland die Unterstützung für indigene Völker in allen betroffenen Politikfeldern aktiv voranbringt. Eine solche ressortübergreifende Strategie bindet alle betroffenen Ministerien ein: Neben Entwicklungs-, Außen und Umweltpolitik etwa auch Wirtschaft, Verkehr, Gesundheit und Finanzen. Über internationale Kooperationen und Projekte tangieren alle diese Politikfelder die in der ILO 169 zugesicherten Rechte und Pflichten für den Schutz indigener Völker.

Die in dem Übereinkommen verankerten Rechte der indigenen Völker gelten unabhängig von deren Relevanz für weltweite Klimastabilität und Nachhaltigkeit. Aber es ist ein wichtiges zusätzliches Argument: Alles hängt mit allem zusammen. Die in Studien vielfach belegte Tatsache, dass indigene Völker wichtige Ökosysteme schützen und bewahren, trägt vielleicht zur Lösung einer der größten globalen Herausforderungen bei.

Die deutsche Ratifizierung der ILO 169 ist ein Meilenstein. Es ist ein Erfolg jahrzehntelanger Lobbyarbeit, Gespräche, Netzwerke, Besuche, Argumentationspapiere etc. Unsere Partner legen große Hoffnung in die Wirkung dieser Ratifizierung. Wir sollten es nicht bei der Erstellung konventionskonformer Berichte an die ILO belassen, sondern diesen Erfolg als Ausgangpunkt für eine sehr viel ambitioniertere und ehrlichere Politik zum Schutz indigener Völker, Rechte und Territorien machen.

Tobias Schäfer-Sell


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