Was lief falsch in der christlichen Mission? – Eine Analyse
Christliche Organisationen, Kirchen und Personen haben es zunehmend schwer, sich in Indien frei oder auch politisch oppositionell zu äußern. Professor V.V. Thomas schreibt über christliche Mission in diesem „unfreundlichen“ Umfeld in Indien. Er benennt Probleme und macht Lösungsvorschläge, die auch global für Kirche und Mission bedeutsam sein können.
Die christliche Kirche gibt es seit mehr als 2000 Jahren in der Welt. Sie hat sich sowohl positiv als auch negativ auf die gesamte menschliche Gemeinschaft ausgewirkt. Das Christentum ist die am weitesten verbreitete Religion, aber sie ist keineswegs die dominierende. Das Christentum wird immer wieder herausgefordert. Es hat Zeiten gegeben, in denen es zu schwinden schien.
© Foto: Daniel Joshua/unsplash | In Indien haben es Christ*innen zunehmend schwerer
Einer der größten Nachteile der christlichen Kirche besteht darin, dass sie in ihren Ansätzen zur Mission und auch im kirchlichen Leben falsche Konzepte entwickelt hat. Ich möchte vier solcher Konzepte aufzeigen, die meiner Meinung nach in das Denken der Kirche und ihrer Leiter*innen eingedrungen sind und dazu geführt haben, dass die Kirche und ihre Mitglieder ihren Einfluss auf die Welt verloren haben. Nachdem ich diese vier Bereiche identifiziert habe, möchte ich darüber nachdenken, wie wir die Situation auf der Grundlage einiger wichtiger biblischer Prinzipien verbessern können.
Instrumentelle Rationalität – ein falsches Konzept
Das erste falsche Konzept, das die Kirche in ihrem Missionsansatz über Jahrhunderte hinweg entwickelt hat, nenne ich instrumentelle Rationalität, oder der Gedanke, dass wir unsere Probleme selbst lösen können. Einer der Fehler, den die Kirche nach der Bekehrung Konstantins im Jahr 313 n. Chr. gemacht hat, war die Annahme, dass sie ihre Probleme durch eigene Anstrengung und Kraft lösen kann. So geriet sie in alle möglichen Verwirrungen, die dazu führten, dass die Kirche aufhörte, das Salz und Licht der Welt zu sein. Die ökumenischen Konzilien der Kirche ab 325 n. Chr. und spätere Schismen, die Kreuzzüge im Mittelalter und das Inquisitionsgesetz, das ab dem 13. Jahrhundert angewandt wurde, um mit all jenen umzugehen, die die Kirche für Ketzer*innen hielt, sind nur einige Beispiele dafür, wie die Kirche in die Gefangenschaft der Vorstellung geriet, dass sie ihre Probleme selbst lösen kann. Selbst heute sehen wir dies in unseren Kirchen und christlichen Organisationen, insbesondere im Zusammenhang mit Verfolgungen gegen das Christentum. Anstatt die Aufmerksamkeit der Menschen auf Jesus, den Herrn der Kirche, zu richten, haben unsere Leitenden die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Verfolgenden gerichtet. Viele Leitenden der Kirche denken, dass sie diese Probleme durch ihre eigenen Anstrengungen lösen können.
Das Reich Gottes ist nicht käuflich
Das zweite falsche Konzept der Kirche ist das Gefühl, dass wir das Reich Gottes kaufen können, oder die Vorstellung, dass das Reich Gottes gekauft werden kann. In ihrem Versuch, die Gute Nachricht zu verkünden und die Menschen in das Reich Gottes zu bringen, hat die Kirche irgendwie gedacht, dass sie das Reich Gottes kaufen kann, ohne die Tatsache zu erkennen, dass kein Mensch in das Reich Gottes kommen kann, wenn der Vater die Menschen nicht in sein Reich zieht. Doch die Kirchengeschichte ist voll von solchen Geschichten, die das Wirken einiger zeigen, die dachten, sie könnten das Reich Gottes mit ihren eigenen Mitteln und Methoden herbeiführen. Sie haben nicht begriffen, dass das Reich Gottes kein Essen und Trinken ist, das man mit Geld kaufen kann. Die Kirchengeschichte ist voll von Geschichten, in denen viele Christ*innen bei ihren Versuchen, das Reich Gottes zu verbreiten, Ausdrücke verwendeten, die für unsere Freund*innen anderen Glaubens sehr beleidigend wurden. Kriegswörter wie „Armee“, „Vormarsch“, „Angriff“, „Schlacht“, „Feldzug“, „Kreuzzug“, „erobern“, „Kommandos“, „Feind“, „Streitkräfte“, „Marschbefehl“, „Ziel“, „Waffen“ wurden fälschlicherweise als Motivationsmittel für Missionen verwendet. Es stimmt zwar, dass das Böse in all seinen Formen mit der Herrschaft Gottes in Konflikt steht, aber wir müssen erkennen, dass das Böse unser Feind ist und nicht die Menschen. Oft hatte ich das Gefühl, dass einige unserer Freund*innen in ihrem Enthusiasmus, das Evangelium zu predigen, „einen Kreuzzug führenden Christus und nicht einen gekreuzigten Christus“ zeigen.
Expressiver Individualismus – ein bedenklicher Trend
Der dritte falsche Trend, den ich heute sehe, ist das, was ich expressiven Individualismus nenne. Die Kirche in der apostolischen Zeit wurde als eine Gemeinschaft von Gläubigen gesehen, die die Liebe Gottes unter sich teilten. Ihr Ziel und ihre Identität wurde zunehmend als Mittel zur Schaffung einer neuen Menschheit wahrgenommen, die Christus, in Form sich selbst hingebender Liebe, gleichgestaltet ist (Gal 4,19). Diese sich selbst verschenkende Liebe war die Quelle ihrer Identität. Die Gemeinschaft lebte durch die Mission und für die Mission. Sie stellte die Gemeinschaft in den Vordergrund. Persönliche Interessen waren für ihr Handeln nicht ausschlaggebend. Doch leider ist das Gemeinschaftskonzept der Kirche durch eine Art individualistischen Ansatz ersetzt worden. Mit dem Anbruch der Moderne und der Postmoderne, mit der Entwicklung der Technologie und unserer Kommunikationssysteme sind wir heute individualistischer und egoistischer denn je.
Es gab einen Evangelisten mit dem Namen Sadu Kochukunju Upadeshi in Kerala/Südindien, der Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt hat. Er war ein so gottesfürchtiger Mensch und lebte sein Leben für die Sache des Reiches Gottes. Er war für seine Gastfreundschaft bekannt. Am Tor vor seinem Haus war ein Schild angebracht, auf dem stand: „Essen für die Hungrigen, Wasser für die Durstigen und Ruhe für die Müden“. Viele Menschen, die die Straße vor seinem Haus passierten, gingen hinein und dieser Evangelist zeigte ihnen große Gastfreundschaft. Es heißt, dass durch seine Predigten viele zum Glauben kamen und dass einige der Menschen, die durch diesen Evangelisten zum Glauben kamen, christliche Leiter in den Kirchen von Kerala wurden. Aber im Kontrast dazu, haben heute, fast ein Jahrhundert nach der Zeit dieses berühmten Evangelisten, einige der christlichen Leitenden Schilder vor ihren großen Häusern angebracht, auf denen steht: „Vorsicht Hund“… Expressiver Individualismus ist an die Stelle von Gemeinschaftsangelegenheiten und Gemeinschaft getreten.
Wegwerf-Werte und Zukunftsversessenheit
Der vierte Trend, den ich unter Christ*innen sehe, ist die Tendenz, alles Alte zu verwerfen und mit neuen Dingen fortzufahren. Auch hier ist der Einfluss der Postmoderne und ihre Tendenz zur Schnelligkeit in die Kirche eingedrungen. Der Eifer, sich in die Zukunft zu bewegen, hat viele gezwungen, einige der Werte zu ignorieren, an denen die Menschen so sehr hingen.
Was nun? – Einige Lösungsvorschläge
Richten wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, wie wir diese Situation heute beheben können.
Zunächst möchte ich vorschlagen, dass wir vom Konzept der instrumentellen Rationalität zu einer trinitarischen Diskursgemeinschaft übergehen; dass wir lernen, die Wahrheit nicht als Macht, sondern als Liebe zu betrachten; dass wir lernen, Gott als Gemeinschaft und nicht als Machtwesen zu sehen. Lasst uns lernen, die Schöpfung in Bezug zueinander wahrzunehmen und nicht als etwas, das wir benutzen können, um unsere Ziele zu erreichen. Versuchen wir nicht, unsere Probleme aus eigener Kraft zu lösen, sondern hören wir auf Gott, damit er uns lehrt, was zu tun ist und wie wir unsere Probleme lösen können. Das Volk Gottes in babylonischer Gefangenschaft konnte sein Problem nicht lösen, sondern musste auf Gott hören, der das Problem löste.
Das zweite Problem, das wir festgestellt haben, ist die Vorstellung, dass wir das Reich Gottes kaufen können, wenn wir die Menschen als Ware betrachten. An dieser Stelle möchte ich vorschlagen, dass wir lernen, sie aus der Perspektive Gottes zu betrachten. Heute sehen wir alles als Ware an. Wenn wir wollen, dass die Menschen die Liebe Gottes kennen lernen, dann können wir das nur durch die Liebe tun, die Gott uns durch das Kreuz Christi gezeigt hat.
Der dritte Trend, den wir festgestellt haben, hat mit dem expressiven Individualismus zu tun, bei dem wir keinen Platz für andere in unserem Leben haben. Hier möchte ich vorschlagen, dass wir vom Individualismus zu Praktiken des Bündnisses übergehen und Gastfreundschaft praktizieren, indem wir Fremde willkommen heißen. Heute gibt es diese Angst vor den anderen. Wir sollten jedoch lernen, dass es der biblische Weg ist, Fremde willkommen zu heißen. Lasst uns lernen, dass die Aufnahme von Fremden mit unserer eigenen Bekehrung zum Evangelium beginnt.
Der vierte Bereich, den ich identifiziert habe, ist die Tendenz, in die Zukunft zu springen. Hier möchte ich vorschlagen, dass wir eine Reise von der Zukunft zur Erinnerung machen. Ich schlage vor, dass wir uns die Zeit nehmen, in die Vergangenheit zurückzugehen und uns die Wege anzusehen, die der HERR uns gezeigt hat, und ihm dafür dankbar zu sein. Im Alten Testament sehen wir das immer wieder. Im 5. Buch Mose, Kapitel 8, lesen wir, wie Gott das Volk Israel durch Mose ermahnt, sich zu erinnern und zu sehen, wie der HERR sie während ihrer vierzigjährigen Reise durch die Wüste geführt hat. Israel existiert nur aufgrund seiner Erinnerung. Nur wenn wir in der Erinnerung an Gottes Barmherzigkeit leben, werden wir sein Volk.
Christliches Zeugnis im indischen Kontext
Was das christliche Zeugnis in Indien betrifft, so ist es das Gebot der Stunde, dass wir eine Identität entwickeln, die positiv und beziehungsorientiert gegenüber unseren Freund*innen aus anderen Religionen ist, und keine ablehnende Haltung. Wir als Christ*innen müssen eine Identität entwickeln, in der unsere Aufgabe des christlichen Zeugnisses die religiösen Erfahrungen unserer Freund*innen aus anderen Religionen berücksichtigt, in der Menschen anderer Religionen nicht zu „Opfern“ unserer christlichen Bewertung werden, sondern zu unseren Partner*innen bei der Errichtung von Gottes Reich auf Erden auf der Grundlage „biblischer Prinzipien“ und nicht nur einiger „christlicher Prinzipien“, wie sie uns überliefert worden sind. Unsere Theologie muss zu einem „Querverweis“ und nicht zu einem „Selbstverweis“ werden, wo der Dienst zu „Gottes Dienst“ und nicht zu „unserem Dienst“ wird, wo die Mission zu „Gottes Mission“ und nicht zu „unserer Mission“ wird, wo die Kenosis (Selbstentäußerung), Nekrosis (der Tod Christi am Kreuz) und Theosis (die endgültige Verherrlichung Christi) Teil unseres christlichen Zeugnisses werden.
Wir müssen verstehen, dass wir, bevor wir Christus bezeugen können, selbst Zeug*in werden müssen. Mit anderen Worten: Wir müssen zuerst mit Gott versöhnt werden, bevor wir andere Menschen mit Gott versöhnen können. Das christliche Zeugnis muss die Sprache des „du“ und „die anderen“ vermeiden. Das Zeugnis muss eine Sprache des „wir“ und des „uns“ werden. Das Zeugnis für andere Menschen wird nicht möglich sein, wenn wir die andere Person von unserer Spiritualität und Religiosität isolieren. Was ich damit sagen will, ist, dass wir heute im Namen des christlichen Zeugnisses und der Mission das Evangelium kommerzialisiert haben.
Christ*innen müssen durch ihre Taten und Haltung sichtbar werden
Das christliche Zeugnis muss uns veranlassen, zu unseren Freund*innen anderer Religionen und Kulturen zu gehen und sie um Vergebung zu bitten. Stellen Sie sich vor, wie sich die Dinge ändern könnten, wenn einige unserer Bischöf*innen, Pastor*innen und anderen christlichen Führerenden unsere Mitmenschen um Vergebung bitten würden, weil sie sie, ihren Glauben, ihre Kultur usw. missverstanden haben. Bei unserem Zeugnis für Menschen aus anderen Religionen und Kulturen ist es wichtig, dass wir ihnen als Menschen verpflichtet bleiben. Wir sollten sie nicht als Ware betrachten, sondern als Menschen, die der Liebe und Fürsorge Gottes bedürfen.
Unsere Fürsorge für die Armen sollte sich auf die Armut der Armen konzentrieren. Wir müssen eine bevorzugte Option für die Armen haben, und zwar durch ihre Befähigung und nicht durch Almosen. Das öffentliche wie das private Leben der Missionar*in sollte tadellos und vorbildlich sein, und er*sie muss sich eindeutig bemühen, das zu praktizieren, was er*sie predigt. (Das größte Problem der Kirche heute ist, dass wir das, was wir leidenschaftlich predigen, nicht in die Praxis umsetzen). Ein weiterer Vorschlag ist, dass wir wie in Klöstern und Ashrams einfach leben müssen, damit andere einfach leben können.
Wir müssen bereit sein, unsere Schuhe auszuziehen, wenn wir auf neuem Boden, in einer neuen Kultur, inmitten einer neuen Gemeinschaft stehen, um die Liebe Christi zu teilen, denn der Boden, auf dem wir stehen, ist „heiliger“ Boden! Was ist eigentlich Evangelisation? Es geht darum, eine Brücke zwischen unseren Herzen und dem Herz der anderen Person zu schlagen, damit Jesus in das Herz dieser Person eintreten kann.
Kirche im „New Hindutva“
Andererseits müssen wir als Christ*innen wissen, dass wir uns in Indien auf „unfreundlichem Territorium“ bewegen, insbesondere im Zuge der „New Hindutva“-Bewegung, die versucht, Indien zu einer Hindu-Nation zu erklären. Nun die Frage: Wie können wir in einem unfreundlichen Gebiet überleben? Die christliche Mission in Indien muss sich in die folgenden Richtungen bewegen, wenn wir in unserem Land etwas bewirken wollen. Wir als Christ*innen müssen sein:
Extrovertiert: Jede*r von uns sollte eine aufgeschlossene, sozial selbstbewusste, menschenbezogene Person sein. Wie müssen mit Menschen in Beziehung treten.
Aufgeschlossen: Als Christ*innen müssen wir unsere Augen offenhalten, um uns von allem, was uns begegnet, bereichern zu lassen.
Einvernehmlich: Das heißt nicht, dass wir Kompromisse eingehen müssen, sondern dass wir offen sein müssen und keine geschlossene Geisteshaltung einnehmen.
Emotional reif: Man darf sich nicht von seinen Gefühlen leiten lassen. Man sollte reif sein, seine Gefühle unter Kontrolle zu haben.
Bewusst: Wir sollten uns dessen bewusst sein, was um uns herum geschieht, um positiv auf die eigene Umgebung reagieren zu können.
Ich hoffe, dass diese Vorschläge uns als Christ*innen auf unserem Weg weiterhelfen können.
V.V. Thomas
Gedanken zum Text von Silja Joneleit-Oesch:
Dass V.V. Thomas in diesem Text so frei formuliert, ist keinesfalls selbstverständlich. Christliche Organisationen, Kirchen und Personen haben es zunehmend schwer, sich in Indien frei und gegebenenfalls auch politisch oppositionell zu äußern. Der Handlungsspielraum wird kleiner. Die Möglichkeiten der pluralen Zivilgesellschaft schrumpfen, daher auch shrinking spaces genannt.
Statt den Rückzug anzutreten, in die innere Immigration zu gehen, schlägt V.V. Thomas das Gegenteil vor: Mit einer diskursiven Haltung will er in Indien auf die Menschen zu gehen, besonders auf die, die eine andere religiöse Herkunft haben. Wir sollten wegkommen, von einer (westlichen?) Macher*innen-Mentalität, die womöglich noch eine Käufer*innen-Mentalität im Schlepptau hat, hin zu einer offenen Gastfreundschaft, besonders auch für Fremde, offen für Unerwartetes und offen für Beziehungen.
Der Text zeugt von einer mutigen Haltung und innerer Freiheit, seine Gedanken zu teilen.
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