Was mir der Krieg nicht nehmen kann

Es ist Krieg in Europa. Krieg in der Ukraine. Lange hielt die Bedrohung an und wurde zum schrecklichen Alltag und dann kam der Angriff. Die ganze Welt befindet sich im Schockzustand. Dass da wieder Krieg in Europa ist, macht fassungslos und stellt die Lebensrealität vieler Menschen in Frage. Lange war Leben selbstverständlich, lange war Frieden ein hohes, aber doch alltägliches Gut. Und was ist nun? Wie verändert der Krieg die Welt, wie wir sie kannten? Wie verändert der Krieg uns? Was bleibt vom Glauben an das Gute in Anbetracht dieses Schreckens? Kateryna Potapenko ist aus der Ukraine geflohen und beschreibt ihren Weg, das Erlebte, ihre Emotionen und Gedanken.

Der Krieg weckt viele Emotionen in uns. Anders als bei Trauer, die man in fünf Stufen unterteilen kann, gibt es hier so viele verschiedene Schichten, dass es sich anfühlt, wie eine endlose Achterbahnfahrt – nach jedem Hoch folgt direkt das nächste Tief und kaum ist man dort, geht es schon weiter. Aber jede Nacht hat ein Ende und die Dunkelheit ist weniger erschreckend, wenn das Licht endlich angeht.

Millionen Menschen sind aktuell auf der Flucht, mit dabei nur wenig Gepäck – mehr geht nicht. © Foto: Denys Argyriou/Unsplash | Millionen Menschen sind aktuell auf der Flucht, mit dabei nur wenig Gepäck – mehr geht nicht.

Es beginnt und endet mit Angst. Zunächst die fünf Nächte in Kyjiw [Anm. d. Red.: In der Schreibweise orientieren wir uns an der ukrainischen Schreibweise, nicht an der russischen Schreibweise der Hauptstadt der Ukraine], als wir im Badezimmer und im Flur schliefen – und Schlafen meint hier lediglich, mit geschlossenen Augen zu liegen. Der Fernseher war andauernd angeschaltet und wir waren jede Sekunde bereit, etwas zu hören wie: „Lauft weg, so schnell ihr könnt.“ Innerhalb weniger Tage lernten wir, den Unterschied zu hören zwischen einem Kampfflugzeug und einem Verteidigungsmanöver. Wir alle hatten diese Übungen in der Schule, wie man sich im Falle eines Erdbebens oder bei einem Feuer verhalten soll. Aber das half in dieser Situation nicht. Denn in der Realität sind drei Minuten zu lang, um in den Bunker zu kommen. Du wirst die Rakete nicht hören. Und die Sirenen werden dich nicht warnen. Du kannst nur beten und hoffen, dass die Rakete nicht dein Haus trifft und irgendwo in den Wald einschlägt (was natürlich nicht passiert). Und so wachten wir mit der Angst auf, alles zu verlieren, wir verließen unsere Stadt mit der Angst, nie wieder zurückzukommen und wir gingen mit der Angst um unsere Lieben, die geblieben sind.

Wir gingen in Verzweiflung. Wir nahmen nicht viel mit, das ging auch gar nicht. Menschen mit großen Koffern ließen diese auf dem Weg zur polnisch-ukrainischen Grenze zurück. Kannst Du Dir das vorstellen? Eine große Ansammlung von Koffern überall. Ein apokalyptisches Bild. Die ukrainische Zuggesellschaft machte das Unmögliche möglich. Wir hatten Glück, einen Zug nehmen zu können. Dort saßen wir mit zwölf Menschen in einem Abteil, das in guten Zeiten für vier Menschen Platz geboten hätte. Unterwegs musste der Zug einige Male anhalten – die Lichter gingen aus, wir mussten still sein und sollten unsere Köpfe bedecken. Als ob das geholfen hätte. Die gesamte Bevölkerung, die im Osten der Ukraine gelebte hatte, war nun auf dem Weg in den Westen. Es gibt kaum noch freie Plätz für all die fliehenden Menschen. Kirchen, Schulen, Gebetshäuser, Kindergärten, Krankenhäuser, Universitäten sind überfüllt – die Menschen schlafen auf Teppichen in Sporthallen.

Hast Du je dieses bekannte Kennenlernspiel „Zehn Dinge, die Du auf eine einsame Insel mitnehmen würdest“ gespielt? Und dann wird die Liste auf fünf Gegenstände gekürzt, dann auf drei, schließlich bleibt nur ein Gegenstand übrig. Genau so war es für uns, mit nur einer Ausnahme – wir hatten keine Zeit, darüber nachzudenken. Viele von uns haben Dokumente und Geld, vielleicht noch eine Wasserflasche mitgenommen. Aber das Wichtigste hatten wir nicht – einen Plan. Das hört sich besonders in einer Welt, in der man schon für Kleinigkeiten Einkaufszettel schreibt, unglaublich an.

Und dann kommen die Selbstzweifel

Und dann, endlich angekommen, kommen die Selbstzweifel. Selbstzweifel sind bereits ein Thema, wenn Du überlegst, Urlaub zu machen, im Ausland zu studieren, zu arbeiten oder ein Praktikum zu absolvieren. Aber ein ganz anderes Thema, wenn Du ohne Plan plötzlich nach einigen Tagen des Laufens und Fahrens mit Autos, Zügen und Bussen plötzlich tausende Kilometer von zuhause aufwachst und immer noch schwer atmest, wie nach einem Marathon. Du hast Glück, wenn Du jemanden hast, bei dem Du bleiben und mit dem Du sprechen kannst. Und der Moment wird kommen, in dem Du Dich selbst beschuldigst für diese Flucht. Es ist nicht logisch, es ist nicht richtig, aber Du kannst nicht aufhören zu denken, ob Du nicht vor Ort nützlicher gewesen wärst. Wie kannst Du Freunden und Familie noch in die Augen schauen? Und dann kommt die Bürokratie. Du kennst die Sprache nicht, Du wirst nicht gebraucht, Du musst Asyl beantragen.

Zusätzlich kommt der Hass. Kontraproduktiv – ja. Selbstzerstörerisch – mit Sicherheit. Unfair – wer weiß. Du weißt plötzlich, wie sich Krieg anfühlt und kannst nicht aufhören, darüber nachzudenken. Aber wenn Du Gedanken und Geschichten von anderen Betroffenen hörst, lernst Du noch viel mehr Perspektiven auf diesen Krieg kennen. Wenn direkt nach den schrecklichen Geschichten über ein zerbombtes Kinderkrankenhaus, in dem Kinder waren, die Weltgemeinschaft Dein Land seinem Schicksal überlässt, verschluckt der Hass alle anderen Emotionen.

Und gerade wenn Du das Gefühl hast, dein Limit erreicht zu haben, verwandelt sich all das in etwas völlig anderes. Du fühlst Kraft. Du fühlst Stolz. Du fühlst Dankbarkeit. Du fühlst Hoffnung.

Menschen werden zu Held*innen

Es ist unbeschreiblich, wie die europäische Gemeinschaft die Ukraine im Moment unterstützt. Ohne diese Hilfe, wären wohl viele Ukrainer*innen ihrem Schicksal überlassen. In Zeiten, in denen Regierungen „sehr besorgt“ sind, sind Menschen füreinander da – sie helfen an der Grenze, sie kochen Essen, unterstützen Ältere, passen auf Kinder auf, öffnen ihre Häuser, öffnen ihre Türen. Das ist es, was uns vor dem Verrücktwerden bewahrt. Jemand sagte einmal, dass der Krieg die guten Menschen besser und die schlechten Menschen schlechter mache. Gott sei Dank, gibt es so viele gute Menschen.

Kirchen und Kirchengemeinden wurden plötzlich zu Zentren humanitärer Hilfe, zu Schutzräumen, zu Kinderheimen. Gemeindeglieder unterstützen die humanitären Hilfsorganisationen und Kirchenleitende bleiben in ihren Gemeinden als Symbol der Hoffnung und Unterstützung für die, die geblieben sind. Kirche steht so mitten im Leben, egal wie schrecklich dieses gerade auch ist. Priester und Pastor*innen – sowohl ukrainische als auch ausländische – helfen auch an den Grenzen, wo ihre Hilfe ebenfalls bitter nötig ist.

Die Held*innen des wahren Lebens ersetzten schnell die Fantasieheld*innen in unseren Köpfen. Held*innen, die Leben und Seelen auf ganz verschiedene Weise retten. Sie beschützen Menschen vor Kugeln, patrouillieren durch die Straßen, öffnen ihre Häuser, kochen Essen mitten in der Nacht in der U-Bahnstation, laufen mit der ukrainischen Flagge mitten durch eine besetzte Stadt.

Also ja, der Krieg hat mein Leben für immer verändert. Er ließ mich in einer dauerhaften Angst leben, er ließ mich alles, was ich liebte, verlassen. Er ließ mich erkennen, dass Pläne nichts wert sind. Aber der Krieg hat mich nicht verändert. Er hat mir nicht meinen Glauben und meine Ideale, meine Hoffnungen und meine Träume genommen. Und auch nicht meine optimistische Lebenseinstellung, meinen Mut und die Gewissheit, dass Gott auf unserer Seite ist. Der Krieg ließ mich, meine Familie und meine Freunde noch viel näher zusammenrücken, obwohl wir räumlich getrennt sind. Und ich weigere mich, mir vom Krieg die Hoffnung nehmen zulassen. Die Hoffnung, dass das Gute siegen wird.

Kateryna Potapenko


Weitere Informationen


Verwandte Artikel