Wie viel Amt braucht Kirche?
Die Menschen machen Kirche, sie sind das Rückgrat. Sie tragen, gestalten, verändern, bauen Kirche und Gemeinde auf oder schaffen sie ab. Das tun sie mit und ohne Amt, doch die meisten tragen keins, meint Theologin Gabriele De Bona.
Es wird viel öffentlich diskutiert, dass die Zukunft der Kirche dem Ehrenamt und dem Lai*innendienst gehört. Doch im Bewusstsein sowohl an der Basis als auch in der Leitung passiert zumeist wenig, diesen Realitäten, die mancherorts schon existieren, den Weg durch angemessene Strukturen und Wertschätzung zu ebnen. In der lutherischen Konfession ist die Kirchengemeinde eher Pfarrer*innen-zentriert. Manche*r junge Theologin oder Theologe möchte diesen Platz vielleicht gar nicht so gerne einnehmen und wird doch in diese Rolle hineingeschoben, die von ihm und ihr gefordert wird. Es gibt auch Studierende, die den Beruf und das Pfarramt wählen, weil sie davon angezogen sind, Amtsauszuübende zu werden. Doch im Studium und in der Praxis wird das Amt wenig oder kaum hinterfragt. Mehr noch – die Tätigkeit als Laie oder Laiin wird oft als minderwertiger wahrgenommen. Dabei sind es nicht zuletzt Lai*innen, die in vielen Gemeinden z. B. des globalen Südens Träger*innen des kirchlichen Lebens sind. Viele ehemalige Missionskirchen sind durch die Initiative von Menschen entstanden und rasch gewachsen, die keine Amtsträger*innen waren. Immer wieder sind es ehrenamtliche Mitarbeiter*innen und Nichttheolog*innen, die gerade in Krisenzeiten den Zusammenhalt christlicher Gemeinschaften und der Kirche sicherstellen.
© Foto: Stefan Trappe | In Äthiopien tragen Lai*innen die Kirche vorwärts
Für eine Kirche der Zukunft kann es wenig erstrebenswert sein, Funktionen und Tätigkeiten an einem Amt festzumachen. Ehrenamtliche Tätigkeiten künstlich durch Ordinationen aufzuwerten, ist ein Weg in die falsche Richtung, wenn man Menschen für die Mitarbeit in der Kirche begeistern möchte. Das Festhalten daran, dass es Ämter braucht, um bestimmte Aufgaben in der Kirchgemeinde ausüben zu dürfen, blockiert Prozesse, wenn es um Veränderungen und um die Gestaltung einer Kirche der Zukunft geht, einer Kirche, die heute und auch morgen auf Menschen einladend wirkt und mit deren existentiellen Fragen in einen glaubwürdigen Austausch kommt.
Und auch wenn die Gesellschaft sich schon längst verändert hat, erstaunt es nicht, dass sich gerade in den Kirchen die jahrhundertealte patriarchale Geschichte immer noch stärker widerspiegelt, wenn sie an einem festgelegten Ämterverständnis und patriarchalen Vorstellungen festhalten. Diese überholten tradierten Vorstellungen fließen in Werte- und Glaubensvorstellungen, in das Gottes- und Menschenbild und in Rollenverständnisse ein. Gott bleibt in dieser Vorstellung ein ER und der HERR. Er wird „weiß“, gesund und als Mann imaginiert.
Kurzum: das Pfarramt hat eine lange patriarchale, hierarchische und exklusive Tradition, die Menschen auf- oder abwertet.
Die Kirche muss sich ständig erneuern
Diese Vorstellungen spiegeln sich auch in der theologischen Ausbildung wider, wo es vorrangig darum geht, den Nachwuchs für das Pfarramt auszubilden. Eine Kernaufgabe und Verantwortung einer jeden Kirche ist es wahrscheinlich, gut ausgebildete Theolog*innen hervorzubringen, die ihren zukünftigen Aufgaben gewachsen sind. Muss das wirklich heißen, Menschen in ein Amt zu bringen? Gemeindeleitung oder Menschen in existentiellen Fragen und Nöten seelsorgerlich und theologisch zu begleiten, benötigt kein Amt. Eine Kirche für die Zukunft gemeinsam mit anderen Gläubigen aufzubauen und zu gestalten, benötigt auch kein Amt.
Wie ernst nehmen wir als Christ*innen und gerade als Lutheraner*innen das Priester*innentum aller Gläubigen und setzen es in die Praxis um? Wie weit setzen wir die Annahme um, dass der Mensch vor Gott grundsätzlich angenommen ist? Die gegenwärtige Realität ist, dass ordinierte Frauen oder Menschen mit einem anderen Geschlecht als dem männlichen oder mit einer anderen sexuellen Orientierung als der heterosexuellen immer noch nicht in allen Kirchen selbstverständlich sind. In Deutschland nicht und global auch nicht. Es sind schon viele Schritte hin zu einer offenen und einladenden Kirche getan worden, aber es ist ein ständiger Prozess, der nötig ist, so wie Luther gefordert hat „ecclesia semper reformanda“ – die Kirche muss sich ständig erneuern.
Wie können wir diesen Prozess der stetigen Reformation befördern und in die theologische Ausbildung eintragen? Ich möchte hier daher die bekannten vier Soli von Luther als Denkschema nutzen und umdeuten.
Sola Scriptura
Wenn als Glaubensrichtschnur die Bibel angenommen wird, heißt das nicht, dass sie wortwörtlich genommen wird. Die Bibel als das Buch der Bücher, das eine Fülle an wertvollen Zugängen zu den Glaubenserfahrungen vieler Menschen bereithält, kann Gott erfahrbar werden lassen. Doch kritisches Lesen und Auslegen der Texte ist wichtig. Die Kontexte der Zeit, aus der heraus sie geschrieben wurden, sind zu berücksichtigen, um sie in die jetzige Zeit hineinzutragen und zu deuten und dadurch kostbar werden zu lassen.
Für die theologische Ausbildung sowie für Diskurse in den Kirchgemeinden wären wichtig:
• diversitätssensible und kritische biblische Hermeneutik (Lesart und Auslegung der biblischen Texte)
• Unterscheidung von biblischen Aussagen und Tradition
• Berücksichtigung des Kontextes biblischer Schriften damals wie z. B. der Sozialgeschichte und deren Auslegung heute
Sola Gratia und Sola Fide
Die Zusage, angenommen zu sein vor Gott, ist unabhängig vom Geschlecht. Sie kommt durch Gnade und durch Glauben allein. Diese Zusage sollte deutlich werden im Alltagsgeschehen, in Verkündigungs- und in der diakonischen Praxis der Kirche. Diese Grundannahme muss auch in der theologischen Ausbildung gelten, d. h. unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Behinderung, Ethnie oder sexueller Orientierung usw. ist jeder Mensch von Gott angesehen und sollte gleichen Zugang zu theologischer Ausbildung und zur gleichberechtigten Ausübung von Aufgaben innerhalb der Kirche haben.
Solus Christus
Christus Jesus, der patriarchale Traditionen durchbrochen und provokant tradierte Wertevorstellungen in Frage gestellt hat, wird von Luther ins Zentrum der christlichen Glaubenslehre gestellt. Hier möchte ich zu einer kritischen Reflexion auffordern. Denn was heißt Christus für uns? Was heißt es für mich und was für dich? Ist er der Bruder, der Gottessohn, Gott, das Wort, der Mensch, der Gesalbte, der König der Könige, der Leib? In allen diesen Beschreibungen stecken ganze Welten von Vorstellungen, was sich Menschen unter Jesus Christus vorstellen, woran sie glauben und sich von ihm erhoffen. Doch eindeutig ist in allen Beschreibungen, dass Jesus Christus als Mann dargestellt wird, und das hat in der Vergangenheit patriarchale und damit hierarchische Strukturen befördert, die bis ins Heute wirken.
Die befreiende Botschaft Jesu entdecken
Hier wünsche ich mir eine kritische Reflexion dieser Vorstellungswelten, die unterdrückende Strukturen stützen und stärken, um die befreiende Kraft der Botschaft Jesu zu entdecken und dies in die Lebenswelt umzusetzen. Daran schließt sich unmittelbar der Wunsch nach einer Kirchenlehre an, die gemeindezentriert ist, wo deutlich wird, dass Ehrenamtliche und Lai*innen das Rückgrat der Kirche bilden. Das machen uns gerade die schnell wachsenden Kirchen aus dem globalen Süden vor.
In meinem Theologiestudium wurde die Ekklesiologie, also die Lehre von der Kirche, als Standardfach benannt, aber es gab so gut wie keine Seminare dazu. Das Angebot in den Bibliotheken war recht dürftig. Unter uns Studierenden konnten wir wenig damit anfangen. Es war viel interessanter, über dogmatische oder exegetische Fragen zu diskutieren. Jetzt in meiner beruflichen Praxis habe ich täglich mit Fragen der Kirchenentwicklung zu tun. Im Kontakt mit den Partnerkirchen in der internationalen Ökumene gewinne ich neue Perspektiven auch auf Problemfelder in der deutschen Kirchenlandschaft.
Lai*innenbewegungen tragen die Kirche vorwärts
Es ist zum Beispiel sehr deutlich, dass in einer der am schnellsten wachsenden protestantischen Kirchen (mittlerweile die größte lutherische Kirche), der Mekane Yesus Kirche in Äthiopien, die Kirche von den Lai*innen und Ehrenamtlichen vorangebracht und weitergebaut wird. Auch wenn, wie Dr. Bruk Ayele, Leiter des Mekane Yesus Seminars in Addis Abeba, sagt, ein Bedarf an theologischer Ausbildung besteht, um theologisch gut qualifizierte Pfarrer und Pfarrerinnen auszubilden, so betont er, dass die Kirche durch die Lai*innenbewegung vorwärts getragen wird und dass es eine Kirche von Ehrenamtlichen ist, die das Fundament bilden.
Kirchenentwicklung ist also das spannendste und, wenn man möchte, das revolutionärste Thema – nicht nur im Theologiestudium. Wir können auf Probleme schauen. Wir können uns mit Modellen anderer Kirchen beschäftigen auf der Suche und in dem Versuch, eine Kirche der Zukunft zu bauen, die wächst und lebendig ist, wo sich Menschen wohlfühlen und wo sie Lust haben, diese mitzugestalten. Es wäre daher wünschenswert, auch an deutschen Universitäten in der theologischen Ausbildung intensiver Lehrinhalte zu behandeln und Thinktanks zu bilden, um Gedanken für Visionen zur Kirchenentwicklung oder Gemeindeaufbau zu entwickeln. In Kirchen des globalen Südens geschieht es schon längst.
Gabriele De Bona
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