Zwischen Hoffen und Bangen – Die ersten Monate der neuen Ampelregierung

Sie ist seit gut 100 Tagen im Amt, die neue Bundesregierung in Deutschland – für Michael Herbst von der Christoffel Blindenmission eine Zeit zwischen Hoffen und Bangen. Was so ein Regierungswechsel für Interessensvertreter*innen bedeutet und wie er die ersten Monate der neuen Regierung insbesondere mit Blick auf Entwicklungszusammenarbeit, Menschrechte und Religion erlebt hat, darüber schreibt er in seiner Bilanz zur neuen Ampelregierung. Ein Blick hinter die Kulissen der Hauptstadt.

Warum sollten sich Politiker*innen in Deutschland um Menschen mit Behinderungen im globalen Süden kümmern? Das erklären mein Team und ich bei der Christoffel Blindenmission (CBM) entwicklungspolitischen Entscheider*innen in Berlin. Keine leichte Aufgabe. Wir sprechen schließlich über Menschen, die nicht in Deutschland wählen können. Aber dank Menschenrechtsverträgen, globalen Entwicklungszielen und nicht zuletzt guter Netzwerkarbeit ist es doch möglich.

Der Deutsche Bundestag, als Parlament das gesetzgebende Organ der Bundesrepublik, tagt im Reichstagsgebäude in Berlin. © Foto: NikolausBader/pixabay | Der Deutsche Bundestag, als Parlament das gesetzgebende Organ der Bundesrepublik, tagt im Reichstagsgebäude in Berlin.

Die Würfel sind gefallen

Bei Wahlen lüftet sich für Interessenvertreter*innen der Vorhang jedes Mal aufs Neue. Gespannt verfolgt man Prioritätensetzungen, Personalentscheidungen und sucht nach Ansatzpunkten für künftige politische Arbeit.

Als während der Koalitionsverhandlungen das Gerücht auftauchte, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) stünde zur Disposition, schalteten einige Kolleg*innen in Berlin bereits in den Kampagnenmodus. Schließlich blieb das BMZ doch bestehen. Die politische Hausleitung wurde durchgängig sozialdemokratisch und eine Fachfrau für Umweltpolitik wurde Ministerin. Svenja Schulze brachte ihren beamteten Staatssekretär und manch andere neue leitende Mitarbeitende aus dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) mit ins BMZ. Aus dem Auswärtigen Amt rekrutierte sie einen parlamentarischen Staatssekretär sowie eine Staatsekretärin, einen Staatsminister und die vormalige Menschenrechtsbeauftragte. Irgendwer bei uns kommentierte pessimistisch: „Wenn wir nichts zu Klimaschutz zu sagen haben, hört man uns nicht mehr zu.“

Dialogforum der CBM mit Aktivistinnen und Aktivisten: Kudakwashe Dube, John Paredes, Verena Bentele, Dinah Radtke, Michael Herbst, Abia Akram (v.l.) © Foto: Harms/CBM | Dialogforum der CBM mit Aktivistinnen und Aktivisten: Kudakwashe Dube, John Paredes, Verena Bentele, Dinah Radtke, Michael Herbst, Abia Akram (v.l.)

Aber immerhin, eine Menschenrechtsfachfrau gestaltet die BMZ-Arbeit mit und Bärbel Kofler verkündete am 17. Februar 2022, Deutschland lade gemeinsam mit Jordanien zum 3. Globalen Behindertengipfel 2025 nach Berlin ein. Einige Wochen zuvor verkündete die Ministerin höchst selbst, Deutschland wird der Kigali-Deklaration beitreten. Sie beschreibt den weiteren Weg bei der Bekämpfung vernachlässigter Tropenkrankheiten. Damit wird nicht zuletzt auch vermeidbare Behinderung bekämpft. Mit der Zivilgesellschaft gehen die neuen Amtsträger*innen erfrischend unverkrampft um. Sie bemühen sich um Dialog und es wirkt aufrichtig.

Die Bildung des Bundestagsausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (AwZ) begann jedoch mit einer kalten Dusche. Den Vorsitz sollte ein Rechtspopulist führen. Der bekam keine Mehrheit und schließlich übernahm der dienstälteste Parlamentarier kommissarisch den Posten. Die wöchentliche Ausschusssitzung wird vom Bundestagspräsidium auf Mittwochnachmittag gelegt. Dort konkurriert sie mit aktuellen Stunden und Regierungsbefragungen im Plenum. So weit, so schlecht, doch die Liste der Ausschussmitglieder ist eine gute Mischung zwischen bewährten Kräften und neuen Köpfen.

Ein Blick in die Schreibwerkstatt

Über 300 Menschen schreiben wochenlang an 177 Seiten. Fertig ist der Koalitionsvertrag. Bemerkenswert aktiv ist er formuliert und die Bandbreite zwischen konkreten Aussagen und allgemeinen Absichtsbekundungen ist enorm. Mehr Fortschritt will man wagen und die Schlüsselwörter sind schnell gefunden: 226 mal lesen wir „digital“, 198 mal „Klima“ und 119 mal „sozial“. Dagegen fallen „Menschenrechte“ (46), „Kinder“ (83), „Frauen“ (35) und „Menschen mit Behinderungen“ (3) doch deutlich ab.

Was in Koalitionsverträgen steht, kann passieren. Was nicht drin steht, eher nicht. Das entwicklungspolitische Kapitel gehört nicht unbedingt zum Konkretesten und Ausführlichsten, was das Papier zu bieten hat. Spannend aus menschenrechtlicher Sicht ist das außenpolitische Bekenntnis zu einer „feminist foreign policy“. Svenja Schulze macht für ihr Ressort daraus „feministische Entwicklungspolitik“. Zu klären bleibt, ob sie das wirklich menschenrechtlich meint und wie breit die Basis ist, auf die sie das Prinzip stellt.

Lasst Zahlen sprechen

100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr. Wer seit Jahren globale Herausforderungen wie soziale Ungleichheit, nachhaltiges Wirtschaften und Klimaschutz im Blick hat, der reibt sich erstaunt die Augen, wenn er sieht, was nach der „Zeitenwende“ ohne nennenswerten gesellschaftlichen und parlamentarischen Diskurs plötzlich haushaltstechnisch möglich ist. Nun gut: Spielsachen für Kinder finanziert üblicherweise die Elterngeneration, bei solchen für Soldat*innen ist es offensichtlich umgekehrt. Und jenen die meinen, wir hätten das Militär kaputtgespart, möchte man entgegnen, den Planeten auch.

Der BMZ-Etat ist für die einen weniger schlimm als erwartet. Zumal die Eckpunkte für die nächsten Jahre weit weniger dramatisch aussehen als noch vor einem Jahr. Für die anderen ist er unverantwortlich klein. Die Corona-Krise ist global längst noch nicht überwunden. Die Ukraine-Krise wird globale Auswirkungen vor allem auch in Entwicklungsländern haben.

Wie hältst Du’s mit der Religion?

20 Millionen Euro weniger für die christlichen Hilfswerke. Nur noch 300 Millionen Euro sind für sie im BMZ-Etat eingeplant. Allerdings: Der Ansatz stieg in den letzten Jahren fortwährend.

Niemand aus der politischen Leitung des BMZ bekennt sich im Lebenslauf explizit zu einer christlichen Kirche. 2018 wurde das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit geschaffen und beim BMZ angesiedelt. Nun heißt das Amt Beauftragter der Bundesregierung für weltweite Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Es wurde mit dem evangelischen SPD-Politiker Frank Schwabe besetzt und dessen Fachgebiet ist die Menschenrechtspolitik.

Auch die Ampel macht „nur“ Politik

Was die neue Koalition im Kern zusammenhält, sind ähnliche Vorstellungen zum gesellschaftlichen Zusammenleben. Oft wird die Legalisierung von Cannabis als Beispiel genannt. Doch es geht um mehr: Gesellschaftspolitische Strömungen sollen in politisches Handeln umgewandelt, alternativen Lebensentwürfen soll mit respektvoller Toleranz, ggf. sogar unterstützend begegnet werden. Darin steckt integrative Kraft. Und ja, auch ohne Angabe einer Konfession im Lebenslauf kann bei einem Menschen das Herz am rechten Platz schlagen.

Doch die Ampel ist keine gesellschaftliche Bewegung, sondern eine parlamentarische Koalition. Aktuelle Stimmungslagen in der Bevölkerung motivieren die neuen Regierenden zu tiefgreifenden politischen Entscheidungen. Aber was passiert, wenn sich die Stimmung im Land wie bei der Corona-Impfpflicht und womöglich auch dereinst beim „Sondervermögen Bundeswehr“ dreht? Die Entkopplung spontaner Stimmungswellen, wie sie in einer Mediengesellschaft schon einmal vorkommen, von politischen Entscheidungsprozessen ist etwas, das die Ampel-Koalition noch lernen muss.

Was sie dringend beibehalten sollte ist die Suche nach einem neuen Politik-Stil. Die Tendenz, die Schuld auf Kabinetts- oder Parlamentskolleg*innen abzuwälzen, scheint in ersten mehr oder weniger informellen Gesprächen bereits wieder durch. Genauso wie das Schlechtmachen des politischen Gegners, selbst wenn er bis vor kurzem noch Koalitionspartner war. Zivilgesellschaft, Wissenschaft, soziale Bewegungen etc. in Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen, den politischen Gegner mit Respekt zu behandeln, klare Statements an die Stelle politischer Floskeln zu stellen… Wenn das weiter klappt, dann wären wir in diesem Land einen großen Schritt weiter. Aber wie es so ist mit mühsam antrainiertem Verhalten. Es zu ändern ist so, als will man sich selbst die Haare schneiden: langsam, kompliziert, aber es geht.

Michael Herbst


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