Afrika und die Entstehung der modernen Welt
Gold, Zucker, Tabak und Baumwolle – Der US-amerikanische Journalist Howard W. French zeigt in seinem Buch informativ und verstörend auf, dass die „moderne Welt“ auf der ungeheuren Arbeit von versklavten Menschen aufgebaut ist und eröffnet so eine neue Perspektive auf die afrikanische und europäische Geschichte. Martin Frank hat das Buch für uns gelesen.
© Foto: Klett-Cotta Verlag/Fallon Michael/unsplash | Afrika und die Entstehung der modernen Welt, Howard W. French, Klett-Cotta Verlag, ISBN: 978-3-608-98667-9
Eine Globalgeschichte
Elmina, heute ein verschlafenes Städtchen an der Küste Ghanas, bildet in Howard W. Frenchs Globalgeschichte das geographische Zentrum für den weltweiten Gold- und Sklav*innenhandel. Ich habe die ehemalige riesige Sklav*innenburg selber mehrfach besucht, habe die nassen dunklen Verliese gesehen und die berüchtigte „Door of No Return“, durch die versklavte Menschen nach Monaten grausamer Ungewissheit auf die Schiffe in der Bucht verschleppt wurden. Oft kommen Besucher*innen aus den USA und legen Kränze für ihre Vorfahr*innen nieder, machen Fotos, vergießen Tränen. Das zeigt anrührend, wie präsent die Sklav*innengeschichte immer noch ist.
Der US-amerikanische Journalist French weitet in seinem über 500 Seiten starken Werk den Blick übers Persönliche hinaus und zeigt, dass die „moderne Welt“ auf der ungeheuren Arbeit von versklavten Menschen aufgebaut ist, vom sagenhaften Zuckerboom auf Barbados oder São Tomé um 1640 bis zur Erschließung des Mississippi-Deltas für Baumwolle am Vorabend des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges. Er webt aus den verschiedensten Erzählstoffen und Schauplätzen eine einzigartige Geschichte der Begegnung zwischen Afrika und Europa beziehungsweise der auf Sklaverei errichteten Neuen Welt. Er zeigt, wie unsere Moderne die Ursprünge ihres Reichtums verdrängt hat und rückt den Kontinent Afrika an die richtige Stelle, so wie man eine Landkarte neu zentriert.
Der Goldhandel als Fundament der modernen Welt
Wir kennen Kolumbus und Da Gama vom Namen her. In ihrer Entdeckerfreude sind sie scheinbar nur an Afrika vorbeigesegelt. Aber es ging ihnen nicht um Abenteuer und die Westpassage. Sie hatten von den unfassbaren Goldschätzen gehört, die sich in Westafrika befinden sollten. Wurde nicht immer wieder von der Pilgerfahrt des Mansa Musa erzählt, dem sagenhaft reichen König von Mali, der mit mehr als 60.000 Menschen und gut 18 Tonnen Goldstaub über Kairo nach Mekka gereist war?
In dem Moment, in dem Europa und Afrika durch den Goldhandel der Portugiesen mit den Ashanti aus Elmina in Kontakt traten, so French, sei das Fundament der modernen Welt gelegt worden. Dazu kam bald der Sklav*innenhandel, denn ohne ihn wären die Produkte, die Europa und die sogenannte Neue Welt reich machen sollten wie Zucker, Kaffee oder Baumwolle, nicht möglich gewesen. In England stieg der Zuckerkonsum zwischen 1650 und 1800 um 2.500 Prozent, schätzt French. Im Kaffeehaus, dem ersten Zentrum der sich bildenden Öffentlichkeit, wurde süßer Kaffee getrunken! Allein nach Jamaica wurden dafür mehr als 1,1 Millionen versklavte Menschen verschleppt.
Dennoch versucht French, die Abermillionen versklavten Menschen nicht nur als Opfer darzustellen, die zu Tausenden in den Zuckermühlen starben oder deren Ernährung bis ins Kleinste kontrolliert und limitiert wurde. Er schildert ihren Widerstand durch immer neue Aufstände, aber auch durch die Musik des Jazz und Blues, die auf den unzähligen Plantagen im Mississippi-Delta entstand. Frenchs Buch ist bewegend und beschämend, eine „ebenso schmerzhafte wie notwendige Lektüre, die demütig werden lässt“, wie die New York Times schreibt.
Martin Frank
Verwandte Artikel
Frauen auf der Flucht
Syrien, Kamerun, China, Libanon, Irak oder Ukraine – Weltweit flüchten Frauen vor Konflikten und Verfolgung. Die Züricher Autorin Tina Ackermann hat mit…
Das nomadische Jahrhundert
Wissenschaftsjournalistin Gaia Vince legt mit „Das nomadische Jahrhundert“ ein herausforderndes Buch vor, das jedoch, wenn man sich auf Vinces Argumentation…
Unlearn Patriarchy 1 & 2
Die Bücher „Unlearn Patriarchy I“ und „Unlearn Patriarchy II“ bieten tiefgehende Einblicke in die Strukturen und Mechanismen des Patriarchats und zeigen…