Das Mädchen mit der lauternen Stimme

Was bedeutet es, gehört zu werden – in einer Welt, die Mädchen und Frauen systematisch zum Schweigen bringt? In ihrem Debütroman „Das Mädchen mit der lauternen Stimme“ erzählt die nigerianisch-britische Autorin Abi Daré die Geschichte eines Mädchens, das um seine Rechte kämpft. Katrin Lüdeke hat das Buch für uns gelesen.

Das Mädchen mit der lauternen Stimme, Abi Daré, Verlag: Eichborn, ISBN: 978-3-8479-0138-9 © Foto: Eichborn/Fallon Michael/unsplash | Das Mädchen mit der lauternen Stimme, Abi Daré, Verlag: Eichborn, ISBN: 978-3-8479-0138-9

Ein Zuhause ohne Halt

„Der Brautpreis ist für dich, Adunni. Nächste Woche wirst du Morufus Frau.“ Für die 14-jährige Adunni bricht die Welt zusammen bei den Worten ihres Vaters. Es ist 2014 und sie lebt in einem kleinen Dorf im Süden Nigerias – Kinderehen sind seit 2003 in Nigeria verboten, aber in ländlichen Gegenden immer noch üblich.

Schon bis zu diesem Zeitpunkt war Adunnis Leben nicht einfach. Sie konnte nur wenige Jahre zur Schule gehen, weil dann das Geld dafür nicht reichte. Die Grundschule in Nigeria ist zwar kostenlos, aber die Uniform und das Schulmaterial müssen selbst bezahlt werden. Nachdem ihre Mutter starb, musste sich das Mädchen allein um den Haushalt kümmern – kochen, putzen, Wäsche waschen, einkaufen. Krampfhaft hält sie sich an der Hoffnung fest, eines Tages wieder zur Schule gehen zu können. Um ihr Wissen frisch zu halten, unterrichtet sie jüngere Kinder auf dem Markt, die auch nicht zur Schule gehen können.

In ihrer Familie ist aber vieles dysfunktional: Ihr Vater ist alkoholkrank, das Sofa hat keine Polster mehr, sie lassen Lebensmittel anschreiben und können kaum ihre Miete bezahlen. Besonders stolz ist die Familie auf den alten Fernseher, den Adunnis Bruder beim Schrottsammeln fand – und der nicht funktioniert. Immer wenn sie Besuch haben, tun sie deshalb so, als ob die Fernbedienung gerade verloren gegangen ist. Wie wenig Adunnis Familie funktionstüchtig ist, und wie sehr sie auf Schein bedacht ist, spiegelt sich so auch in der Einrichtung.

Vom Regen in die Traufe

Alles Flehen bringt nichts, Adunni hat keine Wahl und heiratet. Ihre Familie ist auf den Brautpreis angewiesen. Denn Morufu ist vergleichsweise reich: Er hat eine Taxifirma, ein richtiges Haus und schon zwei Ehefrauen, aber noch keinen Sohn. Den soll Adunni ihm gebären. Ihr Leben ändert sich auf einen Schlag, aber nicht zum Besseren.

An ihrem ersten freien Nachmittag kann sich Adunni ein Stück von ihrer alten Normalität zurückkämpfen und nutzt die Zeit, um ihre Freundinnen und ihren kleinen Bruder zum Spielen zu treffen. Es ist so verstörend, dass dieses Mädchen, das mit ihren Freundinnen Kinderspiele spielt, einen erwachsenen Mann heiraten musste und Nacht für Nacht vergewaltigt wird und so berührend zugleich, dass dieses Mädchen, das seit Jahren die Carearbeit übernimmt und schon so früh erwachsen werden musste, in diesem Moment so unbeschwert ist, indem sie einfach nur Kind sein kann.

Schließlich hält Adunni ihre Situation nicht mehr aus und flieht nach Lagos, der größten Stadt Nigerias. Hier ist alles anders als in ihrer Heimat – viele Autos, alles ist laut und schnell, aus dem Hahn kommt tatsächlich Wasser – aber auch vieles ist wie bisher. Adunni kommt als Hausmädchen zu einer reichen Familie, wird auch hier ausgebeutet, gedemütigt, sexuell bedroht und misshandelt.

Hoffnung auf Bildung

Beeindruckenderweise verliert sie dabei nicht die Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie nimmt das Leben hin, wie es sie trifft, versucht, das Beste daraus zu machen und hält dabei an ihrem Wunsch fest, Lehrerin zu werden. Schließlich erfährt sie von einem Stipendium, das sich an Mädchen wie sie richtet – 20 Millionen Kinder können in Nigeria nicht zur Schule gehen. Circa 17 Prozent der Mädchen werden noch vor ihrem 15. Lebensjahr verheiratet und etwa 15 Millionen Kinder unter 14 Jahren sind gezwungen zu arbeiten, die meisten von ihnen Mädchen. Das Stipendium ist Adunnis Chance, endlich frei zu sein und sie setzt alles daran, ihren Traum wahr werden zu lassen.

Holprige Sprache, klare Worte

Adunni schreibt in ihrem Bewerbungsessay ihre persönliche Geschichte nieder und beschönigt dabei nicht die Gewalt, die sie erlebt hat: „Ich erzähl der Schule, dass dieses Stipendium mein Leben ist. Dass ich es brauch, um zu leben, um ein Mensch zu werden, der was wert ist. Ich erzähl, dass ich Dinge verändern, anderen Mädchen wie mir helfen muss. Und am Ende erzähl ich von meiner großen Liebe zu Nigeria, obwohl mein Leben in diesem Land voller Leid gewesen ist.“

Die holprige Sprache nimmt direkt in Adunnis Gedankenwelt hinein. Die „lauterne Stimme“, die Adunni sich wünscht, das Außenland, ein Fernbediener und wortwörtlich genommene Sprichwörter – die Fehler in ihrer Sprache lassen Adunni oft unbedarft und naiv wirken, zeigen aber auch ihre Unvoreingenommenheit und Positivität dem Leben gegenüber. Die Eigenheiten ihrer Sprache geben ihr einen ganz eigenen Klang. Die Übersetzung des englischen Originals ist der Übersetzerin Simone Jakob treffend gelungen. Hier nutzt Adunni nicht das Pidgin-Englisch, das in Nigeria gesprochen wird, sondern eine Abweichung davon, da sie nur für kurze Zeit Englisch lernen konnte.

Eine Stimme mit Nachhall

Adunnis Geschichte überzeugt vor allem durch die starke Hauptfigur und ihre großen Träume. Trotz aller Widrigkeiten, die ihr begegnen, lässt sich Adunni nicht unterkriegen. Sie kämpft nicht nur für sich selbst, sondern auch für all die anderen Mädchen, denen es ähnlich geht. Mit ihrer „lauternen Stimme“ gibt sie ihnen Hoffnung – und eine Stimme, die gehört wird.

Den äußeren Schein zu wahren, ist für fast alle Figuren im Buch zentral – bloß nicht auffallen, bloß nicht aus alten Strukturen ausbrechen. Adunni jedoch tut genau das: Sie stellt sich quer, stellt Forderungen und hinterfragt bestehende Machtverhältnisse. Ihre trotz allem ungebrochene Liebe zu Nigeria klingt immer wieder durch – naiv vielleicht, aber ansteckend und aufrichtig.

Abi Daré weiß, wovon sie schreibt. Sie ist in Lagos aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Großbritannien. „Das Mädchen mit der lauternen Stimme” ist ihr Debütroman, war für den Desmond Elliott Prize sowie die Literary Consultancy Pen Factor Competition nominiert und gewann 2018 den Bath Novel Award. 2024 ist mit „And so I roar” die Fortsetzung erschienen – Adunnis Geschichte geht weiter.

Katrin Lüdeke


Verwandte Artikel

© Foto: Peter Hammer/Fallon Michael/unsplash

Fast alle Männer in Lagos sind verrückt

Willkommen in Lagos – laut, widersprüchlich und voller Geschichten. In ihrem Erzählband zeichnet Damilare Kuku pointiert, witzig und zugleich schonungslos…


© Foto: Fischer/Fallon Michael/unsplash

Dream Count

Chimamanda Ngozi Adichie ist zurück – mit einem Roman über Freundschaft, Gewalt und Widerstandskraft. In Dream Count erzählt die nigerianische Autorin…


© Foto: Droemer/Fallon Michael/unsplash

All about Africa

Es steht drauf, was drin ist: „All about Africa“ von Stève Hiobi erzählt kompakt und fesselnd von dem Kontinent. Der Afrofluencer, wie er sich nennt, gibt…