Demokratie braucht Religion
Wie relevant sind Kirche und Religion für die Gesellschaft noch? Ein Soziologe und ein Sozialist erklären in „Demokratie braucht Religion” Theologie. Silja Joneleit-Oesch hat es für uns gelesen.
Den Spitzensatz von Gregor Gysi aus dem Vorwort gleich vorneweg: „Und es sind eben zur Zeit nur die Religionen wirklich in der Lage, grundlegende Moral- und Wertvorstellungen allgemeinverbindlich in der Gesellschaft prägen zu können.“ Die Linke kann es nicht, die Konservativen können es nicht, der „Markt“ schon gar nicht, das wird in den Sätzen nach diesem Zitat begründet.
© Foto: Kösel/Fallon Michael/unsplash | Demokratie braucht Religion, Hartmut Rosa (Vorwort Gregor Gysi), Kösel Verlag, ISBN: 978-3-466-37303-1
Ein Soziologe und ein Sozialist erklären Theologie oder: Ein zweifelhaftes Kompliment
Ist das ein Auftrag, eine warme Dusche oder höre nur ich den unausgesprochenen Satz: Und warum prägt dann Religion nicht in beschriebener Weise?
Als Theologin könnte ich natürlich sofort pro domo hier applaudieren und etwas beleidigt konstatieren, dass eben nicht genau hingehört wird, was Kirche, Religion und Theologie zu sagen hat, dann würde die Prägekraft auch wirkmächtig werden. Ich kann auch diese Anfrage sozusagen als frommen Wunsch abtun und erklären, dass Kirche oder Religionen nun wirklich nicht die beste Hüterinnen der Demokratie sind und waren und dass viele ethischen Vorgaben der Kirche insbesondere auch viel Leid hervorgebracht haben etc. Und schon habe ich alles gründlich demontiert.
Gysi aber bleibt dabei und fordert uns auf, die Rolle, die Aufgabe – vielleicht sogar den Auftrag – anzunehmen und dafür einzustehen.
Hartmut Rosa entwickelt dann in seinem Teil seine bekannte Resonanztheorie nicht neu, dieser Text ist ein Vortrag von 2022, sondern er spitzt sie zu auf die Frage nach der Relevanz von Religion in der Gesellschaft. In der Corona-Zeit wurde sichtbar, was Viele schon wussten: Kirche und Religion sind nicht (mehr) system-relevant. Ihnen wird offensichtlich nicht zugetraut, was Gysi fordert, nämlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu begründen und zu entwickeln. (Zur Illustration: 2020 wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung das Forschungszentrum Gesellschaftlicher Zusammenhalt/FGZ gegründet, das seitdem aufwändig und breit angelegt arbeitet und interdisziplinär forscht, jedoch ohne Beteiligung von Kirche/Theologie oder Religion…)
Nach Habermas nun auch Gysi und Rosa: Der Ruf nach Werten und Moral, bei Rosa der Ruf nach der Kompetenz für „Unverfügbarkeiten“, nach einem Gegenmodell zu schneller, höher, weiter. Er erklärt uns die Trinität mit ihrer Perichorese als Resonanzbeziehung, verbindet einen gesellschaftlichen Auftrag (horizontal) mit einer Transzendenzerfahrung (vertikal) und beschreibt damit aufs Schönste ein Kreuz.
Was will man mehr?
Nachdem sich die Lebenswissenschaften/life sciences zu den neuen Leitwissenschaften seit Ende des 20. Jahrhunderts etabliert haben, wird die Leerstelle deutlich, die Naturwissenschaften nicht füllen können: Werte, Ethik, gesellschaftlicher Auftrag aus einer Transzendenzerfahrung oder einem religiösen Auftrag heraus.
Ich schlage vor, lest dieses kleine Buch! Soll es uns Kirchenmenschen doch eine Ermutigung sein, mutig und fröhlich unseren Glauben zu leben, ihn gesellschaftlich einzubringen und dabei von Gott zu reden. Dann sind wir authentisch, werden gebraucht und möglicherweise werden wir sogar wieder relevant.
Silja Joneleit-Oesch
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