Der chinesische Paravent

Autorin Nicola Kuhn begibt sich in „Der chinesische Paravent“ auf eine persönliche Spurensuche, die weit über ihr eigenes Elternhaus hinausreicht und erschließt so eine facettenreiche und oft verdrängte Seite der deutschen Kolonialgeschichte. Es wird klar, koloniale Vergangenheit ist tief in unseren Alltag verwoben – in Möbeln, Erinnerungen und Familienerzählungen. Matt Barlow hat das Buch für uns gelesen.

Der chinesische Paravent, Nicola Kuhn, Verlag: dtv, ISBN: 978-3-423-28403-5 © Foto: dtv/Fallon Michael/unsplash | Der chinesische Paravent, Nicola Kuhn, Verlag: dtv, ISBN: 978-3-423-28403-5

Gibt es mehr Geschichte hinter den alltäglichen Dingen, die unser Zuhause schmücken? Vielleicht sogar… eine schwierige Geschichte? Dies ist die zentrale Frage von „Der chinesische Paravent“, oder „Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam“. Und sie veranschaulicht einen weniger bekannten Bereich der Kolonialgeschichte. Denn es waren nicht nur Nationalstaaten, die von der kolonialen Ausbeutung profitierten, sondern auch Einzelpersonen.

Erst während der Lockdowns in der Corona-Zeit begann Nicola Kuhn, sich für die Geschichte und Herkunft eines chinesischen Paravents zu interessieren, der immer im Haus ihrer Eltern ausgestellt war. Dies führte dazu, dass sie Geschichten von anderen über verschiedene Gegenstände in ihren Häusern oder in den Häusern ihrer Kindheit sammelte.

Die Autorin nimmt die Lesenden mit auf eine lange und verschlungene Reise durch die deutsche Kolonialgeschichte in Asien und Afrika. Familiengeschichten werden ausgegraben und alte Briefe tauchen wieder auf, die die kolonialen Ansichten der Familienmitglieder schildern, die diese Objekte zuerst gestohlen oder gekauft haben. Aber es sind nicht nur die erwarteten Ansichten der Kolonialherren und derjenigen, die vom Kolonialismus profitiert haben, die durch diese verschiedenen Objekte zu Tage treten. Vielmehr sind es auch die ineinandergreifenden Geschichten ganz unterschiedlicher Familien. Schließlich stößt man auf bekannte Namen von Geschäftsleuten, die die deutsche Armee und die Kolonialherrschaft belieferten, und auf Armeeoffiziere, die in einer oder mehreren Kolonien stationiert waren.

Unterschiedliche Perspektiven, unterschiedliche Reaktionen

Noch faszinierender sind die unterschiedlichen Perspektiven derjenigen, die solche Gegenstände geerbt haben. Manche Menschen empfinden erwartungsgemäß Abscheu, dass ein Gegenstand, der Teil ihrer vertrauten Kindheit war, mit Ausbeutung und sogar Völkermord in Verbindung gebracht wird. Andere empfinden angesichts des Abstands zwischen der Geschichte und der heutigen Zeit eher ambivalente Gefühle.

Manche Menschen wollen aber auch gar nicht an die Verbrechen denken, an denen ihre Vorfahr*innen beteiligt waren. Für die heutigen Generationen ist dies herausfordernd und auch schmerzhaft. Manche müssen das Bild eines gütigen und geliebten Großvaters mit dem eines Menschen in Einklang bringen, der Teil eines tief verwurzelten Systems von Missbrauch und Ausbeutung war. Anderen kannten die Person, die das Objekt ursprünglich in Besitz genommen hat, gar nicht und wollen dennoch nicht schlecht über diese Person denken. Aus einer solchen Entfernung und mit so wenig persönlicher Bindung bleibt es faszinierend und rätselhaft zugleich, solchen Reaktionen zu begegnen.

Die unterschiedlichen Reaktionen verdeutlichen die verschiedenen Perspektiven auf eine Periode der deutschen Geschichte, die viele vergessen wollen, die von späteren deutschen Verbrechen überschattet wurde und die vielen einfach nicht bewusst ist. Das Buch zeigt uns, dass wir unsere Geschichte immer mit uns tragen, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, und dass unsere Geschichte weit mehr von unserem Leben und unseren Erinnerungen umfasst, als wir denken.

Matt Barlow


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