Inside Moria
Auf der Grundlage von Notizen zu Therapiegesprächen, Interviews, Social Media Posts und Tagebucheinträgen ist mit „Inside Moria“ eine dicht gewebte und berührende Chronik des Flüchtlingslagers Moria auf Lesbos entstanden. Die Autorinnen Katrin Glatz Brubakk und Guro Kulset Merakerås legen in ihrem Buch dabei konsequent den Blick auf die Verletzlichsten unter den Geflüchteten: die Kinder. Jürgen Schübelin hat es für uns gelesen.
© Foto: Westend/Fallon Michael/unsplash | Inside Moria, Katrin Glatz Brubakk, Guro Kulset Merakeras, Westend Verlag, ISBN: 978-3-86489-436-7
In J.R.R.Tolkiens phantastischer Welt der Hobbits, Elben und Zwerge ist Moria eine lebensfeindliche, verlassene unterirdische Stadt, genannt „Dunkler Abgrund“. In der griechischen Mythologie trägt eine Nymphe diesen Namen. Und seit 2015 steht Moria, so konstatiert es Jean Ziegler, Schweizer Soziologe, ehemaliger Bundesrat und langjähriger UN-Sonderbotschafter, wie ein Fanal für das größte jemals in Europa geschaffene Flüchtlingslager. Katrin Glatz Brubakk, norwegische Kinderpsychologin und engagierte evangelische Christin, hat – unterstützt von der Journalistin Guro Kulset Merakerås – eine Chronik dieses Lagers auf der griechischen Ägäis-Insel Lesbos verfasst und dabei den Fokus konsequent auf die Verletzlichsten unter allen Geflüchteten gerichtet: die Kinder. Ihr Buch, das auf der Grundlage von Notizen zu Therapiegesprächen, Interviews, Social Media Posts und Tagebucheinträgen entstand, umspannt die Zeit zwischen Sommer 2015 und Frühjahr 2024, der Flucht Hunderttausender vor dem Vernichtungskrieg des Assad-Regimes gegen die eigene Bevölkerung, dem IS-Terror und dem Vormarsch der Taliban in Afghanistan – bis zum EU-Migrations- und Asylpakt (GEAS) und seinen Auswirkungen auf die Menschen in den Lagern auf den Ägäis-Inseln.
Staatsversagen an den Verletzlichsten: Kinder in Moria
Glatz Brubakk bettet ihre Erfahrungen als Helferin und „Ärzte ohne Grenzen“-Mitarbeiterin in den politischen und historischen Kontext dieser dramatischen Phase der europäischen Zeitgeschichte ein. Schonungslos arbeitet sie heraus, wie es – entgegen aller Warnungen von Fachleuten – dazu kommen konnte, dass aus dem EU-finanzierten und für die Aufnahme von 2800 Menschen ausgestatteten Registrierungs- und Aufnahmezentrum ein unsägliches Elendscamp wurde, in dem vor dem verheerenden Feuer vom 8. September 2020 bis zu 20.000 Flüchtlinge auf engstem Raum unter katastrophalen Bedingungen zusammengepfercht waren. Sie belegt an Einzelschicksalen, welcher Gewalt, lebensgefährlicher Inkompetenz und Gleichgültigkeit der politisch Verantwortlichen, welcher Brutalität, Hetze und Diskriminierung Kinder vor und nach ihrer Ankunft in Moria ausgesetzt waren. Dafür erinnert sie an die unerträglichen Bilder der Pogrome und Hetzjagden gegen Geflüchtete, internationale Helfer*innen und Journalist*innen, an denen sich vor der Zerstörung des Lagers im Herbst 2020 sowohl Menschen aus der Umgebung als auch Rechtsradikale aus ganz Europa, die als Prügel-Tourist*innen nach Lesbos reisten, beteiligten. Sie macht die Auswirkungen unerträglicher Polizeigewalt und der Übergriffe von Wachleuten gegen Kinder deutlich, thematisiert die Praxis lebensgefährlicher Pushbacks durch die griechische Küstenwache und Marine vor den Augen der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX und erinnert an rassistische Ausfälle gegen Geflüchtete in der offiziellen griechischen Politik, etwa in Gestalt des damals zuständigen griechischen Migrationsministers Notis Mitarakis bei seinen berüchtigten Auftritten im Athener Parlament.
Dabei verdichtet sich – auch wenn die Autorinnen diesen Begriff nicht explizit verwenden – immer klarer die Erkenntnis, dass das funktionale Staats- oder besser Staatenversagen – im Angesicht der Massenflucht aus Syrien, Afghanistan oder den vom IS terrorisierten Gebieten – von Anfang an vor allem der Abschreckung und Abschottung diente.
Voller berührender Schilderungen aus der Arbeit mit Kindern
In einigen Kapiteln sind die Berichte über das, was Kinder auf ihrer Flucht erlitten haben, kaum auszuhalten: Etwa die Schilderung des Schicksals dreier Jungs, die bei schwerem Seegang nachts in der Meerenge von Mytilini von erwachsenen Flüchtlingen aus dem von Schleuser*innen völlig überladenen Schlauchboot einfach wie überflüssiger Ballast ins Meer geworfen wurden und es nur wie durch ein Wunder an den Strand von Lesbos schafften. Glatz Brubakk hilft mit kurzen Einschüben zu psychologischen Grundbegriffen wie Traumata, Verhalten von Kindern unter Extrem-Stress oder Resilienz, das Geschehene einzuordnen. Am dichtesten, intensivsten ist dieses Buch in der Beschreibung berührender Szenen und Momente aus der direkten Arbeit mit Kindern. Dazu tragen auch die beeindruckenden Bilderstrecken bei, mit denen der preisgekrönte norwegische Fotograf Knut Bry den Alltag der Kinder und Erwachsenen, die in Moria lebten, festgehalten hat. Neben den geflüchteten Kindern und Jugendlichen, die hier zu Wort kommen, gehören auch die aus allen Teilen der Welt in diesem Spätsommer 2015 und danach nach Lesbos gereisten freiwilligen Helfer*innen – und couragierten, sich allen Widrigkeiten, Anfeindungen und Kriminalisierungen zum Trotz bis zur Erschöpfung engagierenden Menschen aus der Zivilgesellschaft von Lesbos – zu den positiv in Erinnerung bleibenden, Mut machenden Protagonist*innen dieser Chronik über das Versagen des institutionellen Europas.
„Inside Moria“ – und das ist den Autorinnen ganz wichtig zu betonen – soll kein Plädoyer dafür sein, dass alle Asylanträge in Europa genehmigt werden müssten – aber die Erinnerung daran, dass alle Menschen ein verbrieftes Recht darauf haben, Asyl und Schutz vor Verfolgung und Gewalt zu beantragen – und ihr Antrag gerecht und entsprechend internationaler Menschenrechtskonventionen bearbeitet werden muss. Gleichzeitig liest sich dieses Buch wie eine eindringliche Warnung vor einem dystopischen Europa, dessen Gesellschaften nicht mehr zu Empathie und Solidarität fähig sind – und dadurch deprimierend ärmer werden.
Jürgen Schübelin
Verwandte Artikel

Nach der Flucht
Flucht ist nicht nur ein Lebensabschnitt, der irgendwann vorbei ist. Flucht ist auch ein Zustand, der geflüchtete Menschen nicht loslässt. Autor Ilija…

Flucht
Andreas Kossert zeichnet in seinem 2020 erschienenen Buch „Flucht – Eine Menschheitsgeschichte” ein beeindruckendes und gleichzeitig bedrückendes Panorama…

Frauen auf der Flucht
Syrien, Kamerun, China, Libanon, Irak oder Ukraine – Weltweit flüchten Frauen vor Konflikten und Verfolgung. Die Züricher Autorin Tina Ackermann hat mit…