Kein Land in Sicht
Zehn Jahre zivile Seenotrettung – Autor Chris Grodotzki verwebt persönliche Erfahrungen mit historischen Rückblicken und zeigt, wie sich Solidarität verändert – und wie sie bleibt. Ein kenntnisreiches, bewegendes Buch über Menschenwürde, Widerstand und das Ringen um Menschlichkeit an Europas Grenzen. Jürgen Schübelin hat das Buch für uns gelesen.
© Foto: Mandelbaum Verlag/Fallon Michael/unsplash | Kein Land in Sicht, Chris Grodotzki, Verlag: Mandelbaum, ISBN: 978399136-517-4
Mindestens 25.500 Menschen, so viele, wie eine mittelgroße deutsche Kreisstadt Einwohner*innen hat, starben in den vergangenen zehn Jahren bei dem Versuch, als Flüchtende das Mittelmeer von der afrikanischen Nordküste nach Europa zu überqueren. Diese von der UN-Organisation für Migration (OIM) errechnete Zahl schwingt in Grodotzkis Bilanz über die Geschichte und Erfahrungen von zehn Jahren ziviler Seenotrettung im Mittelmeer als eine Art Grundton auf jeder Seite mit. Der Autor begleitete als Fotograf und Aktivist der ersten Stunde die abenteuerliche Vorbereitung und ersten Einsätze der MS Sea-Watch vor Lampedusa ab Juni 2015 und engagiert sich für Sea Watch bis heute. Er bettet seine Chronologie eines Jahrzehnts zivilgesellschaftlichen Engagements und das Zehntausenden-Menschen-zu-Hilfe-Kommen in einen weitgespannten historischen, politischen, gesellschaftlichen, menschen- und seerechtlichen Rahmen ein. Erinnert wird an die Flucht Hunderttausender vor dem NS-Regime – ganz oft per Schiff – und an die Solidaritätsnetzwerke, die den Verfolgten das Entkommen und Überleben ermöglichten. Ausführlich geht Grodotzki auf die Geschichte der vietnamesischen Boat People, die historischen Einsätze der beiden Schiffe Île de Lumière und Cap Anamur im südchinesischen Meer, aber auch auf die Menschen, die sich nach 1961 bei der Fluchthilfe aus der DDR engagierten, ein.
Eine Frage des Zeitgeists
Deutlich wird, wie Staaten und Gesellschaften flüchtenden, schutzsuchenden Menschen begegnen, ist immer eine Frage des jeweiligen politischen Zeitgeists: So waren die Jahre 2013/2015 eine Phase ungekannter Blüte praktischer Solidarität und beim Blick auf die zivile Seenotrettung auf der zentralen Mittelmeerroute auch der Kooperation und Absprachen etwa mit den italienischen Behörden. Ausdrücklich würdigt der Autor den „Mare Nostrum“-Auftrag der italienischen Marine und Küstenwache (2013-2014) als die „wahrscheinlich größte und effektivste Seenotoperation der Geschichte“, durch die in zehn Monaten mehr als 70.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet wurden. Aber der Schwerpunkt dieses Buches liegt auf dem, was dann folgte: Dem Rechtsruck in Italien und den meisten anderen europäischen Ländern; der radikalen Abschottung und Kriminalisierung der Solidarität mit Geflüchteten, den grotesken Prozessen während der Salvini-Ära gegen Rettungsschiffbesatzungen und immer ausgefeilteren bürokratischen Schikanen, um ein Auslaufen der Schiffe zu verhindern. Dazu das notorische Ignorieren von Notrufen von Menschen in Seenot durch italienische und maltesische Behörden – und die Hilflosigkeit ziviler Retter*innen. Ausführlich geht Grodotzki auf die Kooperation der EU mit der lybischen Küstenwache, die Rolle von Frontex bei Pushbacks in das Bürgerkriegsland und die unbeschreiblichen Verbrechen an Geflüchteten in den mit europäischen Geldern finanzierten Lagern in Libyen ein. Dafür lässt er ausführlich Augenzeug*innen, Überlebende, aber auch Offizielle aus Botschaften und UN-Organisationen zu Wort kommen.
Solide und kenntnisreich recherchiert
Der ironisch-flapsige, mitunter sarkastische Schreib- und Erzählstil des Autors ändert nichts daran, hier ein solides und kenntnisreich recherchiertes Sachbuch vorliegen zu haben. Grodotzkis offene und selbstkritische Rückschau auf die Entwicklungen und Häutungen ziviler Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer von aktivistischen Initiativen zu professionellen, unter anderen auch von der Evangelischen Kirche in Deutschland unterstützten humanitären Nichtregierungsorganisationen – mit all den mit diesem Prozess verbundenen Vor- und Nachteilen – verleiht dem Kernanliegen dieses Buches, trotz allem Gegenwind mehr zivilgesellschaftliches Engagement und breitere Bündnisse gegen den mörderischen Ausnahmezustand an Europas Außengrenzen einzufordern und zu stärken, Gewicht und Glaubwürdigkeit.
Jürgen Schübelin
„Ertrinken lassen ist keine Option – Annika Schlingheider bei Zeit für Mission“
Das Mittelmeer gehört zu den gefährlichsten Fluchtrouten der Welt. Jedes Jahr ertrinken tausende Menschen bei dem Versuch, Europa zu erreichen. Zivile Seenotrettung springt dort ein, wo staatliche Hilfe versagt. Oder ist es sogar eher so, dass staatliche Hilfe versagt wird? Mit welchen Hürden hat die zivile Seenotrettung zu kämpfen? Wie ist es, an Bord eines Rettungsschiffes dabei zu sein? Und was hat all das mit Mission zu tun? Darüber spricht Annika Schlingheider, die bereits mehrfach mit Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer unterwegs war und Vereinsmitglied bei der zivilen Seenotrettungsorganisation United4Rescue ist, mit Host Tanja Stünckel.
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