Die letzte Kolonie

Der bekannte Menschenrechtsanwalt und Bestseller-Autor Philippe Sands erzählt in „Die letzte Kolonie“ die skandalöse Geschichte eines Verstoßes gegen die Menschenrechte. Er zeigt, dass der Kolonialismus noch nicht überwunden ist und Großbritannien bis heute internationales Recht bricht. Sands verbindet dabei geschickt Geschichte, Völkerrecht und persönliche Geschichten. Silja Joneleit-Oesch hat das Buch für uns gelesen und findet in ihrer Rezension einen besonderen Weg, die im Buch geschilderten Geschehnisse für ein besseres Verständnis zu komprimieren – den einer Familienaufstellung.

Die letzte Kolonie – Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean, Philippe Sands, S. Fischer Verlag, ISBN: 978-3-10-397146-0 © Foto: S. Fischer Verlag | Fallon Michael/unsplash | Die letzte Kolonie – Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean, Philippe Sands, S. Fischer Verlag, ISBN: 978-3-10-397146-0

Dramatis personae/Liste der handelnden Personen:

Liseby Elysé: biografisch Betroffene, emotional, anrührend, verklärend
Philippe Sands: der versierte Völkerrechtsanwalt, optimistisch, geduldig, der Erzähler
Großbritannien: Kolonisator, verstockt, ewig-gestrig, Spielverderber
Mauritius: unabsichtlich Betroffener, aufgewacht und aufgeweckt, starker under-dog, Sympathieträger
USA: Trittbrettfahrer, Nutznießer, der lachende Dritte
Der Internationale Gerichtshof/Den Haag: Ort des Geschehens
Archipel Chagos inmitten des Indischen Ozeans, bisher BIOT (British Indian Ocean Territory), eigentlich zu Mauritius gehörig: Stein des Anstoßes, Objekt der Begierde

Wäre es eine Familiengeschichte, könnte sie ungefähr so gehen:

Ein sehr wertvolles, emotional aufgeladenes Erbstück (die Inseln) wird seiner rechtmäßigen Erbin, nennen wir sie Tante Liseby, die alle lieben, geraubt. Dieses Erbstück wird jetzt von einem „alten weißen Mann“ (Großbritannien) im schlechtesten Klischee, reklamiert und als sein Eigentum verwendet. Seinem Buddy (die USA) gewährt er Nutzrechte, in alt verbundenen Seilschaften sozusagen. Das Erbstück, stellen wir uns eine Perlenkette vor, steht aber nicht nur für sich alleine, sondern ist Teil eines Ensembles mit Ring und Ohrringen und nur komplett richtig und schön. Ring und Ohrringe blieben liegen und fühlen sich unvollständig (Mauritius), so wie die Kette (Tante Liseby vom Chagos-Archipel). Das Rumpf-Ensemble (Mauritius) verlangt die Rückgabe, Tante Liseby (die Chagossianer) ist untröstlich und verzweifelt und verlangt das ebenfalls, die alten Onkels (GB und die USA) stellen sich stur.

Der Vermittler (der Anwalt Philippe Sands) tritt auf und schlägt vor, die Dinge noch einmal ordentlich aufzurollen und die Besitzverhältnisse klarzustellen. Natürlich gehören die Dinge zusammen, so war es ja auch vor dem Raub, das ist nicht so schwer zu verstehen. Die Onkel verwenden allerdings inzwischen das Erbstück fröhlich zu ihren eigenen Zwecken (GB hat der USA die Errichtung einer Militärbasis erlaubt, die u. a. im Irakkrieg eine wichtige Rolle gespielt hat – die Inseln liegen einfach geostrategisch günstig) und können sich gar nicht vorstellen, darauf zu verzichten. Der Vermittler merkt, dass hier kein klärendes Gespräch hilft und zieht den großen Familienrat zur Hilfe heran (die UN). Der Familienrat lässt sich den Fall erklären und zieht sich zu umfänglichen Beratungen zurück. In Hinterzimmergesprächen lobbyieren beide Seiten zu ihren Gunsten. Es gibt sehr viele emotionale Unterstützer*innen von Tante Liseby (andere ehemalige Kolonien), auch neutrale Beobachter*innen, die die Rechtslage verstehen und daher ebenfalls die Tante unterstützen und dann gibt es natürlich noch solche, die mit den Onkels in der gleichen Burschenschaft waren und daher ohne viel Nachdenken sich immer auf ihre Seite schlagen und an anderer Stelle dafür auf eine Gefälligkeit hoffen (u. a. Australien).

Ein Krimi des Völkerrechts

Die Gespräche ziehen sich unendlich in die Länge, keine Seite gibt nach. Als goodwill-Aktion darf Tante Liseby ein Mal die Kette leihweise tragen (GB veranstaltet zynische „Nostalgietouren“ für Chagossianer auf ihre alten Inseln, von denen sie deportiert wurden und nicht zurückkehren dürfen), das nützt natürlich nichts, sondern verstärkt die Sehnsucht nur.

Es wird beratschlagt und verhandelt und endlich kommt es zu einer Aussage: ein Familienmitglied, das allgemein und unangefochten geachtet und als weise betrachtet wird (der Internationale Gerichtshof in Den Haag), hört sich alle Argumente an und befindet eindeutig, dass die Kette zurück ins Ensemble und zurückgegeben werden muss (Chagos muss zu Mauritius zurück und vollständig dekolonialisiert werden inkl. dem Rückkehrrecht der Insulaner*innen). Die Onkel könnten, wenn es denn unbedingt sein muss, im Gegenzug dann mit den neuen alten rechtmäßigen Eigentümer*innen über mögliche Nutzungen verhandeln. Aber die Bedingungen stellen dann Tante Liseby und die Besitzer*innen der anderen Schmuckstücke.

Das Ende der Geschichte? Die Onkel in der Großfamilie tun so als hätte sie nicht richtig gehört und als wären sie schon etwas dement und ignorieren den klaren Auftrag zur Rückgabe. Nun wollen sie aber auch nicht die Großfamilie verlassen, so viel Aktion stünde ihnen fern, insofern haben sie sich inzwischen dazu entschlossen, sich nun langsam zu überlegen, wie diese Rückgabe arrangiert werden könnte. Die Deportation der Insel-Bewohner*innen fand 1973 statt, vor genau 50 Jahren. Mauritius wurde längt dekolonialisiert, aber zerstückelt ohne das Chagos-Archipel, das war schon damals illegal.

Der Vermittler lächelt still vor sich hin, Tante Liseby bleibt zuversichtlich und optimistisch und alle anderen schütteln ungläubig die Köpfe über so viel Sturheit und Uneinsichtigkeit.

Philippe Sands erzählt einen langen, zähen und komplexen juristischen Fall, der im Völkerrecht vor dem Internationalen Gerichtshof behandelt wird, wie einen Krimi. Im besten Sinne angelsächsischer story-telling-Tradition von Historiker*innen baut Sands die Geschichte auf. Er zitiert alle relevanten Daten und manchmal ist es anstrengend, den vielen Paragrafen zu folgen, die in die Geschichte hineinspielen, aber eigentlich ist es die Geschichte von Liseby, anhand derer Biografie er die Geschichte der Inseln des Archipels anschaulich macht.

Und die Moral von der Geschicht?

Die alte Kolonialmacht Großbritannien weigert sich bis heute, ein kleines Archipel im Indischen Ozean als letzte Kolonie zurückzugeben. Es ignoriert Aufforderungen des Internationalen Gerichtshofs und hat die Mehrheit fast aller anderen UN-Nationen gegen sich. Mit der Haltung, das-vergessen-die-bald-wieder spielt Großbritannien auf Zeit. Es ist nicht zu fassen!

Wer diesen Krimi aufgeschlüsselt lesen will, ein Lehrstück in missglückter Dekolonialisierung lernen möchte und Interesse am Völkerrecht hat, der*dem sei dieses Buch ans Herz gelegt. Es ist leider frustrierend, aber immerhin mit einem happy end, wenn auch auf stand-by …

Silja Joneleit-Oesch


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