Maud Martha
Es hat lange gedauert, bis diese literarische Perle auch für deutsche Leser*innen zu entdecken möglich war. Denn Gwendolyn Brooks Buch Maud Martha erschien bereits 1953 in den USA. Es ist der einzige Roman der bekannten amerikanischen Lyrikerin, die als erste Schwarze 1950 den Pulitzer-Preis bekam. Ihre Protagonistin Maud Martha hat sie dabei an ihre eigene Erlebnisbiografie angelehnt. Matt Barlow hat dieses besondere Buch für uns gelesen.
© Foto: Manesse/Fallon Michael/unsplash | Maud Martha, Gwendolyn Brooks, Verlag: Manesse, ISBN: 978-3-71752-564-6
Ich weiß noch, wovon ich als Kind geträumt habe, als ich ans Erwachsenwerden dachte: Ich wollte Astronaut werden. Die meisten Menschen haben schon als Kinder Träume von ihrem Erwachsenenleben und ihrer Berufswelt. Einige Menschen schaffen es, diese Träume zu verwirklichen. Aber viele Menschen schaffen es wahrscheinlich nicht. Ich bin ja schließlich kein Astronaut geworden. Für einige Menschen sind die Träume vielleicht auch einfach unrealistisch – leider scheint es zum Beispiel keine offenen Stellen für „Superman“ zu geben.
Der Umgang mit der Enttäuschung über unerfüllte Kindheitsträume gehört einfach zum Erwachsenwerden dazu. Es ist so üblich, dass es ziemlich unauffällig ist. Wie überrascht war ich also, als ich „Maud Martha“ las, die neue deutsche Übersetzung eines bahnbrechenden Buches der afroamerikanischen Autorin und Pulitzer-Preisträgerin Gwendolyn Brooks. Denn ein zentraler Teil des Romans handelt davon, dass Maud Martha mit der Realität konfrontiert wird, dass ihre Träume vom Erwachsenenleben ganz anders sind als das Leben, das sie als junge „Woman of Color“ in einem Ghetto im Chicago der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts führt.
Neben der banalen Realität enttäuschter Erwartungen, die Gwendolyn Brooks in einer so wunderbar poetischen Sprache beschreibt, gibt es die größeren Enttäuschungen einer Woman of Color, die mit dem tief verwurzelten Rassismus und der sozialen Ausgrenzung in einer stark segregierten Stadt wie Chicago konfrontiert ist. Chicago mag zwar zum „Norden“ gehören, aber das bedeutet nur, dass die Segregation oft weniger offensichtlich ist als die Schilder im „Süden“, die wir aus den Geschichtsbüchern kennen und die People of Color sagen, wo sie essen und trinken können. Vielmehr muss man sich mit Klasse als ethnisch-sozialer Ausgrenzung und unverhohlenen rassistischen Übergriffen auseinandersetzen, die keinen Unterschied zwischen „Norden“ und „Süden“ kennen.
Poetisch, eindrucksvoll, großartig
Gwendolyn Brooks beschreibt eine solche Konfrontation in beeindruckender Sprache und untersucht gleichzeitig die psychologischen Prozesse, die in Maud Marthas Kopf vor sich gehen. Eine weiße Frau, die Make-up verkauft, kommt zu Maud Marthas Friseurin (ebenfalls eine Woman of Color), um Make-up zu verkaufen. Im Laufe des Gesprächs verwendet die weiße Frau eine kolonial-rassistischen Begriff für Schwarze Menschen. Maud Martha erwartet zunächst, dass ihre Friseurin die Frau hinauswirft. Doch die Friseurin macht einfach weiter wie bisher. Deshalb denkt sich Maud Martha, dass sie die Beleidigung nicht gehört haben kann. Die weiße Frau kann es nicht gesagt haben. Maud Martha hat sich verhört, und so weiter. Nachdem die Verkäuferin gegangen ist, erwähnt Maud Marthas Friseurin, dass die Frau eine kolonial-rassistischen Begriff verwendet hat, woraufhin Maud Martha antwortet: „Hat sie?“ Maud Martha hatte sich bereits eingeredet, dass sie das Wort überhaupt nicht gehört hatte. Daraufhin verteidigt die Friseurin die weiße Verkäuferin, indem sie sagt, sie habe das Wort nicht böse gemeint und People of Color seien einfach zu empfindlich. In diesem kurzen Kapitel sehen wir ein ganzes Spektrum von Reaktionen auf eine so gewöhnliche und trotzdem schockierende Aggression.
Durch eine solch poetische Sprache und tiefe psychologische Einsichten gelingt es Gwendolyn Brooks, aus dem „normalen“ Leben einer Woman of Color in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein Buch zu schreiben, das so großartig und eindrucksvoll ist. Nein, Maud Martha ist weder eine Astronautin noch Superman. Sie ist keine Heldin. Sie ist nur jemand, dessen Geschichte hunderte, wenn nicht tausende Male wiederholt wurde. Und doch entsteht durch Gwendolyn Brooks’ Schreibtalent etwas Schönes und Denkwürdiges aus dieser „Normalität“.
Matt Barlow
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