Nach der Flucht
Flucht ist nicht nur ein Lebensabschnitt, der irgendwann vorbei ist. Flucht ist auch ein Zustand, der geflüchtete Menschen nicht loslässt. Autor Ilija Trojanow lässt in seinem Buch „Nach der Flucht“ grundlegende Weisheiten über das Menschsein und den damit verbundenen existenziellen Erfahrungen kaleidoskopartig aufscheinen. Aber es ist noch viel mehr, meint Dirk Freudenthal. Er hat das Buch für uns gelesen.
© Foto: S.Fischer/Fallon Michael/unsplash | Nach der Flucht, Ilija Trojanow, Verlag: S. Fischer, ISBN 978-3-10-397296-2
Irgendwann habe ich aufgegeben, dieses Buch als Zitatenschatz zu lesen. Gut so! Es würde dem Buch und seinem Autor Ilija Trojanow nicht gerecht werden – auch wenn in vielen Sätzen in „Nach der Flucht“ grundlegende Weisheiten über das Menschsein und den damit verbundenen existenziellen Erfahrungen kaleidoskopartig aufscheinen.
Nein, Trojanows bereits 2017 erschienener schmaler Band liest sich nicht mal so nebenbei weg wie ein 1000-Seiten-Wälzer in drei Tagen. Wir haben es hier auf nicht mal 130 Seiten mit einem Werk zu tun, das die Zerrissenheit der Fluchterfahrung poetisch und gleichsam präzise seziert. Entstanden ist ein Mosaik aus Erinnerungen, Verlusten und Hoffnungsschimmern, das die Brüche und das tastende Suchen der Figuren in vielen kleinen, absatzartigen Abschnitten lebendig macht. Dabei spiegeln diese immer auch Trojanows eigene Geschichte wider. Geboren in Sofia, ist er als Kind 1971 mit seinen Eltern aus dem damals kommunistischen Bulgarien nach Deutschland geflohen.
Flucht als eine nie endende innere Bewegung
Entstanden ist dabei keine abgeschlossene, schlank erzählte Geschichte. Trojanow zeichnet vielmehr einen Zustand nach, der das Leben der Geflüchteten prägt und aus dem zu fliehen, ihnen nicht gelingen will – ein ständiges Hin und Her zwischen dem Zurückgelassenen und dem Noch-nicht-Gefundenen.
Dieses „Nach“ bestimmt den Rhythmus des Buches: Flucht erscheint hier als eine nie endende innere Bewegung, die auch in der Fremde weiterwirkt. Die Figuren sind gefangen zwischen einer verlorenen Welt, die sie nicht mehr hält, und einer neuen, die sie nicht vollends aufnimmt. Trojanow verdichtet diesen Widerspruch literarisch und macht das unablässige Suchen nach Halt spürbar.
Angesichts der zunehmend hitzigen und populistisch geführten Diskussion um Flucht und Migration ein wichtiges Buch. Es stellt die Debatte vom Kopf auf die Füße, rückt die von Flucht Betroffenen von einem zu lösenden „Problem“ in den Mittelpunkt und macht sie zu dem, was man ihnen immer öfter abspricht zu sein: Menschen.
Dirk Freudenthal
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