Nachleben
Streng aus dem Blickwinkel der von Kolonialmächten unterworfenen Afrikaner*innen erzählt Literatur-Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah die Geschichte zweier Ostafrikaner, die für die grausame deutsche „Schutztruppe“ kämpfen. Ein bewegendes Buch mit vielen Zwischentönen. Matt Barlow hat es für uns gelesen.
© Foto: Penguin Verlag I Fallon Michael/unsplash | Nachleben, Abdulrazak Gurnah, Penguin Verlag, ISBN: 978-3-328-60259-0
Im Mittelpunkt des Romans „Nachleben“ von Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah stehen die verwobenen Leben von Afrikaner*innen, die an der ostafrikanischen Küste leben. Die Zeitachse des Buchs beginnt, während der deutschen Kolonialbesetzung und setzt sich über den Ersten Weltkrieg und den Zweiten Weltkrieg fort. Der Junge Hamza und der Junge Ilyas machen beide Erfahrungen mit der „Schutztruppe“, der deutschen Kolonialarmee – der eine wird eingezogen, der andere schließt sich freiwillig an. Die Schwester von Ilyas sowie die Angestellten eines holzverarbeitenden Betriebes sind die Bindeglieder zwischen den Geschichten der beiden jungen Männer.
Durch die unterschiedlichen Erfahrungen und Geschichten der beiden Jungen erleben wir eine Welt, die in Romanen nicht besonders häufig vorkommt – eine deutsche Kolonie aus der Perspektive der Kolonisierten, und geschrieben von jemandem, der unter dem britischen Kolonialismus aufgewachsen ist, wobei die Spuren des deutschen Kolonialismus noch präsent sind. Dank dieser wunderbar geschriebenen und einzigartigen Sichtweise wird die „Linse“ der Geschichte von der bisher dominierenden europäischen Erzählung umgedreht. Die Deutschen werden als die Fremden und Unbekannten dargestellt, distanziert und oft kapriziös.
Abfärbende Ansichten
In einem besonders eindrucksvollen Moment denkt der junge Hamza, der sich in einer von einem deutschen Missionar geleiteten Mission erholt, über den Missionar nach: „Hamza erkannte in [dem deutschen Missionar] einen Menschen, der von dem äußeren Anspruch auf Dominanz und dem inneren Wunsch zu helfen zerrissen wurde. Er fragte sich, ob es allen europäischen Missionaren so ging, die mit rückständigen Menschen wie ihnen zu tun hatten.“
Schon in diesem kurzen Auszug zeigt sich Gurnahs Begabung beim Schreiben. Er fängt die dem Missionssystem innewohnende Ambivalenz ein, die so oft Hand-in-Hand ging mit dem kolonisierenden System der Ausbeutung. Wir kennen auch nicht die Motive des Missionars, denn der „Kolonialherr“ bleibt immer fremd und unnahbar. Wir können nur Vermutungen anstellen, basierend auf Hamzas Erfahrung mit dieser fremden Person. Gleichzeitig können wir die Überzeugungen erkennen, die der Kolonialherr den Kolonisierten einflößt. Hamza sieht sich selbst als „rückständig“ an. Denn das ist die europäisch geprägte Sichtweise auf Afrika und die Afrikaner*innen.
Und doch ist Hamza diesem Missionar begegnet, weil er verwundet wurde, als die deutschen Truppen in den Schlachten des Ersten Weltkriegs aufgerieben wurden. Die Perspektive auf sich selbst als „rückständig“ nimmt also dadurch einen ironischen Ton an. Besonders da die deutschen Kolonialherren zu diesem Zeitpunkt nicht als „allmächtig“ und natürliche Herren Afrikas wahrgenommen werden. Doch damit ist es auch noch nicht getan: Hamza wird in das Missionskrankenhaus gebracht, weil er zu einem „bevorzugten Einheimischen“ des deutschen Offiziers geworden ist, was wiederum eine weitere Ebene der Erzählung über die Willkür der Kolonialherren zeigt und wie sie sogar ihre selbstlose Großzügigkeit verdächtig macht.
Komplexe Kolonialgeschichte
Abdulrazak Gurnah legt all diese Bedeutungen in einen Text, der auf den ersten Blick eine recht einfache Geschichte über zwei junge Männer und ihre Erfahrungen zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts zu sein scheint. Dennoch vermittelt sein Text auch ein Bild der Komplexität der Kolonialgeschichte und der Interaktionen zwischen dem Kolonialherrn und den Kolonisierten. Dabei lässt er die Leser*innen nie vergessen, dass es sich um echte Menschen handelt, deren Leben von Menschen und Mächten umgekrempelt wurde. Am Ende des Buches erinnert uns die Geschichte auch daran, dass die deutsche Kolonialgeschichte nicht nur in der Vergangenheit liegt, sondern dass die Auswirkungen des deutschen Kolonialismus bis ins 20. Jahrhundert und in die Gegenwart reichen.
Mit dem Roman „Nachleben“, in dem er die afrikanische Perspektive literarisch in die Kolonialgeschichte, die auch eine Herrschaftsgeschichte ist, eingeflochten hat, ist Abdulrazak Gurnah ein Meisterwerk gelungen, das nicht nur die koloniale (Unheils-)Geschichte beleuchtet, sondern auch dazu beiträgt, sie vor dem Vergessen zu bewahren.
Matt Barlow
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