Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken

Zeitreisen, Stierkämpfe auf offener Straße mitten in England, eine experimentelle Form des Genderns und eine kafkaeske Gerichtsszene – in „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ gelten andere Regeln und eine andere Logik. Der Roman von Isabel Waidner fühlt sich an, wie eines der Impro-Theaterstücke, die von den beiden Hauptpersonen regelmäßig aufgeführt werden – aber ohne den Bezug zur Realität zu verlieren. Katrin Lüdeke hat ihn für uns gelesen.

Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken, Isabel Waidner, Verlag: Dumont, ISBN: 978-3-8321-6837-7 © Foto: Dumont/Fallon Michael/unsplash | Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken, Isabel Waidner, Verlag: Dumont, ISBN: 978-3-8321-6837-7

Bei unzuverlässigem Erzählen ist es normalerweise so, dass die Geschichte zunächst überzeugend wirkt und sich erst mit der Zeit Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Geschichte entwickeln. In Isabel Waidners Roman ist von Anfang an unklar, was passiert und ob das der Wahrheit entspricht. „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ ist ein Buch, bei dem der Klappentext anfangs hilfreich zur Hand geht, um zu verstehen, dass diese Story kein Traum ist.

Zwischen Lügen und Realität

Sterling wird mitten auf der Straße angegriffen und in einem Stierkampf verwickelt, als menschlicher Stier. Es kommt zu einem brutalen Kampf, der nur knapp durch eine List beendet werden kann. Der Angriff lässt sich leicht als Symbol für queerfeindliche Gewalt verstehen; und Sterling gibt sich die Schuld daran: „Liegt es an mir? Habe ich die Gewalt heraufbeschworen, oder habe ich sie nur nicht verhindern können? Meine Jacke, zu viel? Nicht genug?“

Bei einem Fußballspiel wird Sterling schließlich verhaftet und abgeführt, erfährt Polizei- und Justizgewalt. Der Vorwurf: Sterling soll auf offener Straße mehrere Personen angegriffen haben. Sterling und seihre Freundni Chachki versuchen, die Situation richtig zu stellen und Sterlings Unschuld zu beweisen.

Sprachlich experimentell: Polnisches Gendering

Seihre Freundi? Kein Rechtschreibfehler: Noch bevor die Geschichte losgeht, wird auf der ersten Seite erklärt, dass hier Polnisches Gendering angewendet wird. Isabel Waidner nutzt im englischsprachigen Original fast ausschließlich die neutralen they/them-Pronomen, im Deutschen ist das schwer nachzuahmen. Die Übersetzerin Ann Cotten greift daher auf eine selbstentwickelte Variante des Genderns zurück, bei der die für alle Gender benötigten Buchstaben in gefälliger Reihenfolge ans Wortende gefügt werden. Aus Freund*in wird Freundni, aus sie und er wird sier.

Kurzer Hintergrundcheck: Die Bezeichnung „Polnisches Gendering“ bezieht sich nicht etwa auf die polnische Sprache, sondern leitet sich von der polnischen Notation ab – einer mathematischen Schreibweise, die ohne Klammern und andere Zeichen auskommt.

Am Anfang stolpert man darüber, trotz der vorhergehenden Erklärung, eine Gewöhnung tritt aber schnell ein. Eigentlich ist diese Form des Genderns gut lesbar, das Gehirn fokussiert sich beim Lesen ohnehin auf die Wortanfänge und erkennt Worte, ohne auf die Endungen zu achten. In der Mitte von zusammengesetzten Wörtern oder bei weniger geläufigeren Wörtern kommt es aber immer wieder zu Irritation.

Eine Rezension auf Amazon äußert Kritik: „das macht das Hirn weich beim Lesen. Soviel Toleranz kann ich leider nicht aufbringen“. Diese Form des Genderns ist nicht für jedne etwas. Wer grundsätzlich an experimentellen Schreibweisen interessiert ist, kann sich jedoch gut über die erste Irritation hinwegkämpfen und sich auf die Charaktere und auf die Geschichte einlassen.

Charaktere am Rand der Gesellschaft

Sterling, Chachki, und ihre Freundnnnie bleiben seltsam fern, weil sie durch die sprachliche Form der Übersetzung wenig greifbar sind. Sprache formt Bilder in unserem Kopf. Wenn Sprache nicht eindeutig ist, welche Bilder formen sich dann?

Die blasse Charakterisierung der Personen passt zu ihrer gesellschaftlichen Rolle, so gehören Sterling, Chachki und ihre Freundnnien Minderheiten an, die selten im Fokus stehen oder genau angesehen werden. Elesin, Sexarbeiterni; Chachki, Einwandererkind und erstes Arbeiterkind an der Uni, der Vater gewalttätig. Und Sterling, auch queer, ist früh verwaist, war lange Zeit obdach- und arbeitslos und hält sich nun mit einem schlechtbezahlten Putzjob über Wasser.

Wenn Sterling über seihrn Leben berichtet, ist von Betroffenheit oder der Schwere der Situation nichts zu spüren. Von der Zeit auf der Straße wird so beiläufig berichtet wie von einem Supermarkteinkauf. Sterling leidet weniger unter diesen Umständen, sondern mehr unter dem Fakt, dass sier ohne Eltern aufwuchs. Die Mutter war alkohol- und drogenabhängig. Der Vater – der hier schwule Franz Beckenbauer – früh an AIDS gestorben und schon zu Lebzeiten abwesend durch die Fußballkarriere und eine Affäre mit Justin Fashanu.

Queerfeindliche Narrative durchbrechen

Gerade der Bezug zu Fußball als toxischem und queerfeindlichem Raum und zu Justin Fashanu bringen in dieser kafkaesken Story auf den Boden zurück. Dessen Karriere als Schwarzer Fußballspieler begann vielversprechend, doch homophobe und rassistische Anfeindungen überschatteten seine Karriere. Sein öffentliches Coming-out 1990 brachte ihm Ablehnung aus der Schwarzen Community und massive mediale Angriffe ein. Nach nicht bewiesenen Missbrauchsvorwürfen nahm er sich, bevor eine Gerichtsverhandlung stattfinden konnte, als Folge von Ausweglosigkeit und Diskriminierung 1998 das Leben.

„Chachki sagt, es sei wichtig, verfälschte Narrative richtigzustellen, aber noch wichtiger, andere Wirklichkeiten aufzubauen“, heißt es an einer Stelle. Eine Wirklichkeit, in der queere Menschen nicht einfach deshalb angegriffen werden, weil sie queer sind. In der sie nicht von der Justiz benachteiligt werden. In der sie sich nicht für ihr Queersein rechtfertigen müssen, sondern ein ganz normales Leben führen können.

Fiktion als Überlebensmechanismus

Die Theaterszenen sind ein Lichtblick, hier können Chachki und Sterling sie selbst sein und sich anziehen, wie sie wollen. Chachki, dier Mode studiert, stellt Drachenkostüme für beide her, die dann aber nicht auf der Theaterbühne, sondern im Gerichtssaal zum Einsatz kommen. Die mit Stacheln besetzten Drachenkostüme verleihen ihnen gleichzeitig Stärke und weisen beide aber auch als sonderbare, gejagte Fabelwesen aus.

Dass hier und da ein bisschen an der Wahrheit vorbei geflunkert wird und sich die Realität zurechtgebogen wird, dass mit einem Raumschiff in der Zeit zurückgereist werden kann, ist nicht einfach nur ein fantasievolles Theaterelement, es ist ein Überlebensmechanismus. „[Wir überleben] mithilfe von Unstimmigkeiten in den offiziellen Narrativen, sogenannten spaceships Moments, ‚Raumschiffmomenten‘, die bestätigen, was wir schon wissen, nämlich, dass wir in einer unterdurchschnittlichen Fiktion leben, wo die Dinge einfach nicht ganz stimmen.“ Die Raumschiffmomente beschreiben die queere Realität und zeigen, auf dem Weg zu Gerechtigkeit muss noch viel getan werden.

Kein Mainstream, aber preisgekrönt

Mit „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ gewann Isabel Waidner den Goldsmiths Prize 2021, einen britischen Literaturpreis, der kreative Romanformen würdigt. Es ist Waidners dritter und bestimmt kein Mainstream-Roman.

„Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ ist ein bisschen wie ein Geschwisterkind, das man skeptisch betrachtet, nicht immer versteht und beim Lesen vielleicht komisch findet – aber das einem doch auf eine liebevolle, verkorkste Weise ans Herz wächst.

Katrin Lüdeke


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