Wenn meine Haare sprechen könnten

In ihren Büchern möchte Autorin Dayan Kodua Kindern, die nicht stereotypisch deutsch aussehen, eine Stimme geben. Sie schreibt darum über Themen, die für BIPoC (Schwarze, Indigene und People of Color) Kinder wichtig sind. „Wenn meine Haare sprechen könnten“ heißt das neueste Buch der Autorin, es geht um die 7-jährige Akoma, die häufig erlebt, dass ihr fremde Leute, ohne zu fragen, in die Haare fassen. Matt Barlow hat das Buch für uns gelesen.

Wenn meine Haare sprechen könnten, Dayan Kodua, Gratitude Verlag, ISBN: 978-3-9820-7684-3 © Foto: Gratitude Verlag/Fallon Michael/unsplash | Wenn meine Haare sprechen könnten, Dayan Kodua, Gratitude Verlag, ISBN: 978-3-9820-7684-3

Durch Geschichte(n) zur Gemeinschaft werden

Ich erinnere mich, dass ich während meines Studiums etwas über Geschichten gelernt habe: Das Erzählen von Geschichten ist eine der ältesten und grundlegendsten Praktiken, die Menschen praktizieren. Sie sind eine Form der Einladung, der Gastfreundschaft. Das Individuum, das wir sind, wird durch die Geschichte zur Gemeinschaft.

Ich wurde an diese Grundlage des Geschichtenerzählens erinnert, als ich dieses Buch über ein junges Mädchen und ihre Haare las. Dies ist die Geschichte einer jungen Person of Color (PoC, eine internationale Selbstbezeichnung von/für Menschen mit Rassismuserfahrungen), deren Haare von erwachsenen Nicht-PoC ohne ihre Erlaubnis angefasst werden. Ich habe viele ähnliche Geschichten von afroamerikanischen Kolleg*innen, afrikanischen Freund*innen – Jugendlichen und Erwachsenen – hier in Deutschland gehört. Die in Ghana geborene, in Hamburg lebende Autorin Dayan Kodua schreibt diese Geschichte aus genau solchen persönlichen Erfahrungen.

Alltagsrassismus: Nicht an den Haaren herbeigezogen

Als Nicht-PoC muss ich zugeben, dass ich nie daran gedacht habe, dass so etwas passieren könnte, bevor mir Freund*innen und Kolleg*innen ihre Geschichten erzählten. Aber das sind Erfahrungen, die außerhalb meiner persönlichen Geschichte liegen, da ich das Privileg habe, nicht-PoC-Haare zu haben, die in Amerika und Deutschland weithin als „normal“ angesehen werden und daher für Fremde uninteressant sind.

Und als ich zum ersten Mal hörte, dass solche Dinge passieren, war ich genauso empört wie meine Tochter, als ich ihr dieses Buch vor dem Schlafengehen vorlas. Wer würde jemanden einfach an den Haaren anfassen? Warum sollte man überhaupt jemanden an den Haaren anfassen, wenn man ihn nicht kennt? Das sind die Fragen, die meine Tochter stellte, nachdem wir das Buch beendet hatten. Und, ja, das sind sehr gute Fragen. Aus dem Kontext des „Alltagsrassismus“ herausgelöst, wären die meisten Menschen auch verwirrt über solche Taten.

Viele Menschen, die mit der Geschichte rassistischer Ungerechtigkeiten vertraut sind, wären vielleicht immer noch überrascht, wenn sie von der Geschichte der „Haardiskriminierung“ in Nordamerika hörten, die bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreicht, als der spanische Gouverneur von Florida und Louisiana ein Gesetz erließ, dass Frauen of Color das Tragen einer turbanartigen Kopfbedeckung vorschrieb. Und heute haben nur 23 US-Bundesstaaten Gesetze, die eine Diskriminierung aufgrund der Frisur verbieten. Das Thema scheint „unbedeutend“ zu sein, wenn es um das Thema Rassismus geht. Und doch ist es alles andere als unbedeutend für diejenigen, die solche Diskriminierung erfahren.

Viel mehr als ein Kinderbuch

Oberflächlich betrachtet könnte dieses Buch eines von Dutzenden Büchern sein, die Kindern etwas über ihre körperliche Autonomie beibringen und wie sie sich gegen jede*n wehren können, die*der sie unerlaubt berührt. Aber angesichts der Geschichten von PoC-Haaren und der vielen persönlichen Geschichten wird es zu einer Geschichte mit einer tieferen Bedeutung für Erwachsene, die sensibler für die rassistischen Probleme hinter solchen Geschichten sind. Denn es ist nicht nur ein Problem der Machtdynamik zwischen Erwachsenen und Kindern, sondern auch eines der rassistischen und ethnischen Komplikationen innerhalb dieser Machtdynamik.

Für Erwachsene enthält auch das Buch am Ende eine „Hair Story“, eine Anspielung auf das englische Wort „Herstory“, d. h. Geschichte (History) aus der Sicht von Frauen. In diesen abschließenden Texten spricht Kodua über die Kulturgeschichte und Bedeutung verschiedener PoC-Frisuren sowie Haarpflege. Denn Haare sind in afrikanischen Kulturen mehr als nur Haare. Haare haben eine kulturelle und soziale Bedeutung, die auch durch die verschiedenen Frisuren, die man mit den Haaren machen kann, unterstrichen wird. Zum Beispiel die Theorie, dass „Cornrows“ in einem Muster geflochten wurden, das Landkarten darstellte, mit denen die (oft analphabetischen) afrikanischen Sklav*innen Orte der Sicherheit finden konnten.

Durch all dieses Hintergrundmaterial wird das Buch zu mehr als nur einem nützlichen Kinderbuch. Es ist ein gutes Hilfsmittel für Erwachsene, die eine kurze Einführung in eine Form des Alltagsrassismus und der Diskriminierung wünschen, von der sie vielleicht noch nie gehört haben. Und weil das so ist, öffnet uns die Geschichte einer Person die Tür zu einer gelebten Erfahrung von vielen Menschen. Die Geschichte lädt uns in eine Gemeinschaft ein, die diese Erfahrungen hören und mit denen, die sie erlebt haben, darüber nachdenken kann.

Matt Barlow


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