Zinzendorf und Amerika
Er ist der Gründer der Herrenhuter Brüdergemeine und einer der wenigen evangelischen Heiligen, die es ins ökumenische Heiligenlexikon geschafft haben: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Doch sein Leben war keineswegs nur vorbildlich. Zinzendorf-Forscher und Autor Andreas Tasche begibt sich in seinem Buch „Zinzendorf und Amerika: Wie aus der Brüdergemeine eine Kirche wurde“ erneut literarisch auf die Spuren des Theologen und fördert dabei teilweise unbekannte oder lange unterdrückte Fakten zutage. Freddy Dutz hat das Buch für uns gelesen.
© Foto: Erlanger Verlag für Mission und Ökumene | Fallon Michael/unsplash | Zinzendorf und Amerika: Wie aus der Brüdergemeine eine Kirche wurde, Andreas Tasche, Erlanger Verlag für Mission und Ökumene, ISBN: 978-3-872-14578-9
Wie aus der Brüdergemeine eine Kirche wurde
Wie oft wünschen sich „die Evangelischen“ – heimlich – „echte“ Heilige? Nur eine kleine Schar protestantischer Männer – und ganz wenige Frauen – haben es wenigstens in das Ökumenische Heiligenlexikon geschafft. Dazu gehört Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700 bis 1760), um ihn mit einem seiner vielen Titel zu nennen. Wahrscheinlich wäre es dem Gründer einer christlichen Wohn- und Freistatt, aus der sich – eigentlich gegen dessen Willen – noch zu seinen Lebzeiten die Herrnhuter Brüdergemeine und die internationale Moravian Church entwickelt hat, nicht so recht gewesen, seinen Namen in dem Verzeichnis zu finden.
Andreas Tasche, seines Zeichens Zinzendorf-Forscher und Pfarrer dieser kleinen Kirche, die in ihrer Heimat viel weniger bekannt ist, als etwa in der Karibik, in den nordöstlichen USA oder in Tansania, hat ein weiteres Buch über den frommen Grafen vorgelegt. Und öffnet damit ein Kapitel, das – vielleicht sogar heute noch – einige Anhänger*innen des frühen Ökumenikers lieber nicht aufgeschlagen hätten.
Ohne Fehl und Tadel?
Doch weshalb müssen „andere“ Christ*innen ohne Fehl und Tadel sein? Weil ich es selbst nicht „schaffe“? Realistisch betrachtet wurden die Lebensläufe all derer, die mit einem Heiligenschein „gedacht“ werden, zwangsläufig aufgehübscht, sprich gefälscht. Dokumente von und über Zinzendorf und die Entwicklung der Brüdergemeinen gibt es viele in Kirchenarchiven an verschiedenen Orten in und außerhalb Deutschlands. Aber längst nicht alles Papier, das der Graf oder seine Zeitgenossen*innen beschrieben haben, wurde aufbewahrt: Bereits Zinzendorf, der fleißige Chronist und eifrige Autor, hatte eigene Aufzeichnungen vernichtet. Seine „Grünen“ Tagebücher, denen er seine intimsten Gedanken anvertraute, wurden schon bald nach seinem Tod zerstört: Das lässt den Schluss zu, dass sie für sein Umfeld sehr verstörend gewesen sein mussten. Und spätere Generationen haben immer wieder seine Texte und Dokumente in „den Giftschrank gepackt“, bzw. vernichtet.
Unterdrückte und unbekannte Fakten neu beleuchtet
Tasche ist tief eingetaucht, um bisher eher unbekannte – oder unterdrückte – Fakten zu beleuchten. Zinzendorf war ein umtriebiger Mensch, viel unterwegs zu Fuß – damals sehr ungewöhnlich für einen Reichsgrafen – mit der Kutsche oder per Schiff. Nicht immer reiste er freiwillig, denn von seinen sächsischen Landesherren war er, mit tatkräftiger Unterstützung der lutherischen Landeskirchenobrigkeit, aus seiner Heimat vertrieben worden. Deshalb suchte er in Deutschland, Europa und auch in den noch nicht vereinigten Staaten nach Möglichkeiten für die Glaubensflüchtlinge, denen er Heimstatt auf seinen ziemlich kleinen Gütern gewährt hatte, und seiner wachsenden Gemeinschaft insgesamt, eine neue Heimat zu finden. Und außerdem sollte unter den „Heid*innen“, Ureinwohner*innen und europäischen „entchristlichen“ Auswanderer*innen, missioniert werden.
Zinzendorf war als Adliger Zögling in der „pietistischen Zentrale“ in Halle gewesen. Zwar lehnte er höfischen Prunk ab, war großer Gegner von Bällen und Gelagen, aber trotz seines Jura-Studiums von „normalem“ Leben eher unbeleckt. Wie viele Adlige, allen voraus die sächsischen Könige, konnte auch er nicht maß- und haushalten. Also: völlig „normal“ für einen Grafen, viel zu viel Geld auszugeben. Mit Hilfe seiner Ehefrau, Erdmute Dorothea, geborene Reuß zu Plauen, die das Haushalten als „gute Hausfrau“ gelernt hatte, fiel die Schwäche zunächst nicht auf.
Ein ungewöhnliches Ehe-Arrangement
Sie hatte als „Finanzvorstand“ eine schwere Bürde, die dem Eheleben wenig zuträglich war, mahnte sie ihn doch immer wieder, weniger Geld auszugeben oder weniger Projekte voranzutreiben. Ohne Erfolg. Bei allen freundlichen Worten, die die Eheleute auch schriftlich austauschten, weil sie oft getrennt waren, wird sicherlich bei Zinzendorf das Gefühl aufgekommen sein: „Die Frau versteht mich nicht“, „Immer meckert sie.“ Von heute aus gesehen: „normal“.
Dass die Beziehung nicht die ganz große Liebe war, war für adlige Paare nicht ungewöhnlich. Sie mochten sich, respektierten einander, hatten Sex, aber irgendwann war die „Luft wohl raus“. Andere Herren hätten sich Geliebte, Gespielinnen oder Mätressen genommen, nicht so Zinzendorf. So banal war Zinzendorf nicht: Er verliebte sich in eine sehr junge Frau, Anna Nitschmann, in seinem Umkreis. Sie bewunderte ihn, ungebunden durch Kinder oder andere Verpflichtungen und unbeleckt von höfischen Zwängen, unterstützte sie ihn bei allem, was er tat, war ihm eine vertrauensvolle Reise-Begleiterin und gab – wahrscheinlich – wenig Widerworte. Ein geradezu ideales Arrangement? Tasche weist – in freundlicher und nachsichtiger Weise – darauf hin, dass Zinzendorf wahrscheinlich immer wieder ein schlechtes Gewissen gehabt hatte, denn wie sei es sonst zu erklären, dass dieser seiner Gemahlin vorschlug, sich auch einen Vertrauten zu nehmen. Welche Rolle der gemeinsame Freund von Watteville dabei spielte, bleibt in diesem Buch weitgehend unerwähnt.
Kritik, Widerstand, Missgunst
Tasche beschreibt anschaulich, wie viel Widerstand gegen Zinzendorfs Ideen einer ökumenischen Gemeinschaft christlicher Kirchen und Gruppen bestand. Der Autor erwähnt nur am Rande, dass die Kirchenführer und ihre Landesherren wohl vor allem von machtpolitischen Überlegungen getrieben waren. Auch die Kritiker*innen nach seinem Tod argumentierten wenig theologisch, sondern waren wohl vor allem neidisch auf den Erfolg und – womöglich auch – auf den Stand des Grafens. Dass ganz banaler Rassismus gegen die evangelischen Glaubensflüchtlinge aus Habsburger Landen und Zinzendorfs unverstandene Liebe zu den Indigenen und den versklavten Menschen in den Kolonien, eine Rolle spielte, ist anzunehmen.
Die Missgunst und der Hass, den pietistische Personen und Gruppen gegen die Brüdergemeine als „kleine christliche Gemeinschaft“ absonderten, gepaart mit Zinzendorfs unerfüllter Hoffnung auf eine offen gelebte Zweisamkeit mit der jungen Frau, so Tasche, begründeten dessen Bemühungen, in Amerika eine Zukunft für die Herrnhuter Schar zu finden. Trotz unvollständiger Aktenlage zeigt der Biograf, welche Schritte der Leiter der damals international schon bestens vernetzten Gruppe unternahm, um eine permanente Übersiedelung in die Neue Welt vorzubereiten.
Gescheiterte Pläne, missachtete Anweisungen
Doch was führte in den folgenden 300 Jahren dazu, dass diejenigen, die am Mythos Zinzendorf als ausschließlich „frommen“ Mann strickten, so viele Dokumente verschwinden ließen? Welche Rolle spielte die tatsächlich sehr seltsam anmutende Geschichte, in der er sich – angeblich – von seiner Ehefrau raten ließ, nach ihrem Tod, den er wohl erwartete, wenn nicht sogar erhoffte, seine junge Gefährtin zu heiraten? Dann wäre einem Leben an ihrer Seite – mit gutem Gewissen – in Amerika nichts mehr im Wege gestanden. Und womöglich hätte sich dann auch der Lauf der Politik geändert …
Zinzendorfs Pläne scheitern aus verschiedenen Gründen, wie Tasche zeigt. Und er beschreibt dessen Gefühle ausführlich, nachdem dieser nach Europa zurückgekehrt war und feststellen musste, dass die Welt, so klein und beengend sie nun auf ihn wirkte, nicht stillgestanden hatte. Die von ihm eingesetzten Vertreter*innen hatten Entscheidungen getroffen, die er zunächst zutiefst ablehnte: Hatte er nicht angesagt, keine Kirche zu gründen? Hatte er nicht befohlen, sich fern von hoheitlichen Erlassen, Verfügungen und Duldungen zu halten? Und er benahm sich so, wie sich „alte Männer“, die ihren Einfluss schwinden sehen, benehmen: Er zürnte, wetterte und nahm übel. So viel Normalität darf ein Heiliger, auch kein evangelischer, eigentlich nicht zeigen. Also ist es wohl doch kein Wunder, dass gelöscht und weggeworfen wurde.
Zinzendorf war zu Lebzeiten kein Heiliger
Selbstverständlich war in all den Jahren über die Beziehung zu Anna Nitschmann, die erst nach dem Tod der Ehefrau in eine heimliche Ehe überführt wurde, getuschelt worden. Dass ein evangelischer Landesherr – der er ja immer noch war, auch wenn er seine Güter seiner Ehefrau übertragen hatte – mit pfarrherrlicher Genehmigung eine Ehe zur Linken führen „durfte“, hatte sich in der deutschen Geschichte mehrfach zugetragen. Dass aber einer, der so tat, als wäre er kein Herr, sondern ein normales Gemeindeglied, der Mäßigung predigt aber verdächtig ist, eine Geliebte zu haben, der musste als – gelinde gesagt – ziemlich bigott wahrgenommen worden sein! Allerdings haben diejenigen, die mit dem Aktenvernichten das Vergessen heraufbeschwören wollten, sich einen Bärendienst erwiesen: Nun kann nichts mehr zu Zinzendorfs Entlastung gefunden werden.
Andreas Tasche ist es auch diesmal gelungen, interessante Aspekte der Herrnhuter Geschichte aufzuarbeiten. Vielleicht hat dadurch der Heiligenschein Zinzendorfs an Glanz verloren. Doch wen sollte das – vor allem heutzutage – stören? Am wenigsten wahrscheinlich Zinzendorf selbst, der sicher erschrocken wäre, zu sehen, welche Überhöhung seine Person erfahren hat. Es ist ein Verdienst, dass sich Tasche auf den Weg gemacht hat, die Gefühle einer beeindruckenden Persönlichkeit zu untersuchen, ohne Schönfärberei zu betreiben.
Etwas anderes leistet das Buch außerdem: Anregung zum Fabulieren.
Was wäre mit den USA geschehen, hätten sich Zinzendorf und andere starke Herrnhuter Persöhnlichkeiten in die Politik gemischt? Wäre die Moravian Church klein geblieben oder die Mutter EINER amerikanischen Kirche geworden? Und hätten die Native Americans, die indigenen Völker Nordamerikas, Gerechtigkeit erlebt?
Freddy Dutz
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